Fastenaktion 2013, 5. März
Seit ich einen Arbeitsplatz mein eigen nennen durfte, war mein Fluss die Emscher. Eine Betonrinne, die sich 80 km lang durch das nördliche Ruhrgebiet zieht; gefüllt mit einer Giftsuppe, die notdürftig mit Wasser verdünnt war. Die Emscher galt Jahrzehnt um Jahrzehnt als der hoffnungslose Fall unter Deutschlands Flüssen. Kein Poet wäre auf die Schnapsidee verfallen, ihren Ufern auch nur eine Zeile Landschafts- oder Liebeslyrik zu widmen. „Mein Mädchen vom Emscherstrand“? Brrr!
Ein gutes Jahrzehnt nach dem Umzug in den Ruhestand ist die Emscher auf einmal zum größten, ehrgeizigsten Renaturierungsprojekt von Deutschlands Wasserwirtschaft geworden. Noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts soll wieder ein richtiger kleiner naturnaher Fluss bei Dinslaken in den Rhein fließen. Die – zugegeben – weitgehend künstlichen Freizeitwelten auf den Industriebrachen rechts und links bekommen ein belebten Blickfang. Flora und Fauna kehren schrittweise zurück, irgendwann vielleicht sogar ein Eisvogel.
Ich freue mich für die Nachkommen der Kumpel und Stahlkocher. Aber ich selber gönne mir doch noch einen richtigen Fluss. Den Namen kannte ich schon, als wir Achtjährigen in der münsterländischen Volksschule „Land, Stadt, Fluss…“ spielten: die Elbe. Meinen Einstand als Elbe-Anrainer erlebte ich gleich mit dem Hochwasser von 2002. Es hat seinen Platz in den Annalen sicher; nicht nur wegen des gewaltigen Ausmaßes. Die Fernsehbilder agierender Politiker und der von ihnen abkommandierten Soldaten schlugen sogar durch auf die damals anstehende Bundestagswahl. Wir hatten immerhin für ein paar Tage vom anderen Ufer evakuierte Menschen als Nachbarn. Elbehochwasser: das war Naturgewalt pur. An der Emscher hätte es für Evakuierungen schon eines bösen Chemieunfalls bedurft.
Seitdem habe ich den großen Fluss nach und nach als lebendiges Wesen kennengelernt. Hoch- und Niedrigwasser im Wechsel der Jahreszeiten. Ein Managementproblem für die Kapitäne der Binnenschiffe auf dem Verkehrsstrom und für die Graureiher am alten Flussbett, das sich durch Magdeburg zieht. Aber beide kommen damit zurecht. In Erinnerung an viele hundert Dienstreisen entlang der Bahntrasse am Rhein fällt mir allerdings dies ins Auge: der Schiffsverkehr auf beiden Strömen verhält sich wie Autobahn zu Dorfstraße. Kein Wunder und kein Malheur, wenn man sich Industriestandorte und Handelsströme hierzulande vergegenwärtigt.
Trotzdem hatten Christenmenschen und ihre Mitbürger gestern bitterernsten Anlass, sich zur 36. Elbeandacht am Ufer unterhalb des Magdeburger Doms zu treffen. Politik und Wirtschaft wollen nicht ablassen von dem törichten, auch wirtschaftlicher Vernunft widersprechenden Plan, die Elbe von einem lebendigen Fluss in einen Kanal mit möglichst allzeit gleichem Wasserstand zu verwandeln. Was um Himmelswillen sollen die neuen Mega-Binnenschiffe mit ihren drei Container-Etagen in einer herbei phantasierten schönen neuen Zeit transportieren? Dresdner Stollen und erzgebirgisches Kunstgewerbe für die ganze Menschheit?
Für mich ist es ein Stück absurdes Theater: das eine Flüsschen wird mit Milliardenaufwand in etwas Naturähnliches zurückverwandelt, weil die Menschen sich danach sehnen. Zur gleichen Zeit wird ein großer Strom um rein theoretischer Profit- und Entwicklungserwartungen willen als Biotop abgeschrieben, vorbei am Bürgerwillen, vom Lebenswillen der betroffenen Mitgeschöpfe ganz zu schweigen. Niemand von denen, die sich gestern zur Stunde der Elbeandacht in Magdeburg trafen, um die Vermarktung des Flusses auszuhandeln, wird für die absehbaren Folgen Rechenschaft ablegen müssen. Sie handeln ja gemäß wirtschaftlichem und politischem Auftrag für ein imaginäres Gemeinwohl. Wenn´s nicht klappt? Nun ja, man muss halt was riskieren!
Gleiches galt für die einstigen Verfechter einiger anderer wirtschaftlicher Superprojekte, die uns heute als Mühlsteine um den Hals hängen, allen voran die Atomkraftwerke.
Wir Christinnen und Christen freilich sind rechenschaftspflichtig. Wir sind es, seit die ersten Kinder Gottes den Auftrag bekamen, den Garten Eden samt seinen Flüssen zu bebauen und zu bewahren. Darum war es gestern Bürgerpflicht und Christenpflicht zugleich, den Planern der Elbevermarktung friedfertig-energisch entgegenzutreten. Sie sind ja Augenwesen, wie wir alle. Sie konnten den Bürgerwillen sehen, der ihrem Projekt entgegensteht. Solche Erfahrungen, vor allem wenn sie ein um das andere Mal wiederkehren, sind schon oft in politische Endabrechnungen eingegangen und haben Unheil abgewendet.
Für mich hat es sich allemal gelohnt. Ich bin noch ein bisschen mehr in meiner Altersheimat angekommen.