Eritrea? Ich fürchte, eine satte Mehrheit unter uns Deutschen wird kaum in der Lage sein, diesem Land einigermaßen korrekt seinen Platz auf der Landkarte zuzuweisen. Ja, den Namen hört man öfter, Tagesschau und so. Irgendwo da bei Syrien, oder Afrika? Afrika stimmt. Soweit mag es gerade noch klappen. Aber darüber hinaus herrscht Wissensnebel.
Hochnäsig vorwerfen kann ich das niemandem. Schließlich hangeln wir uns ja alle unwissend durchs Leben. Nur wo es für uns wirklich wichtig wird, oder spannend, oder einfach schön, schauen wir genauer hin und fangen an zu lernen.
Dann allerdings ist es höchste Zeit, das Wichtigste, das Grundlegende über Eritrea, über seine Menschen zu lernen. Denn in kaum einem anderen Land auf Erden haben gerade junge Menschen so viele verzweifelt gute Gründe, ihr letztes Heil in der Flucht zu suchen. Unsere Regierung muss das wissen. Denn in der Hauptstadt Asmara gibt es eine deutsche Botschaft.
Erst 1993 hat Land am Horn von Afrika nach 30 Jahren Krieg seine Unabhängigkeit von Äthiopien erkämpft. Damals genoss Eritrea mit seinen ungefähr sieben Millionen Menschen viele Sympathien, auch meine. Spätestens nach einem weiteren mehrjährigen Grenzkrieg hat sich das Regime des Diktators Afewerki ab dem Jahr 2000 aber zu einer gespenstischen Diktatur entwickelt, die ihresgleichen sucht und vielleicht gerade noch bei Nordkoreas pausbäckigem Kim III fündig wird.
Ihr wichtigstes Herrschaftsinstrument ist der „Eritreische Nationaldienst“, zu dem alle Bürger ab dem 18. Lebensjahr unbegrenzt, bis an die Grenze des Alters, herangezogen werden können. Politisch-propagandistisch wird der Dienst mit einem Zustand „Kein Krieg – kein Friede“ begründet und gerechtfertigt. Tatsächlich wird so nicht nur eine Armee unterhalten. Vor allem bilden die Nationaldienstler ein unbezahltes Zwangsarbeiterreservoir, mit dessen Hilfe die Mächtigen auch ihre privaten Unternehmen Personalkosten-frei laufen lassen können. Nicht wenige warten schon mehr als zehn Jahre auf ihre Entlassung. Niemand in Eritrea weiß, wie viele Jahre er durch den Zwangsdienst seiner Freiheit beraubt sein wird. Darüber zerbrechen die Familien. Die Alten müssen ohne die Hilfe der Kinder und Enkel überleben. Das seit 15 Jahren etablierte System der heroischen Zwangsarbeit ist weltweit einmalig. Wer aufmuckt, landet in der Welt des Schweigens der Kerker des Regimes oder stirbt einen schnellen Tod.
Seit Jahr und Tag fliehen deshalb eritreische Zwangsarbeiter auf lebensgefährlichen Wüstenrouten Richtung Westen, Richtung Mittelmeerküste, um irgendwo etwas Geld zu verdienen, das sie ihren Familien schicken könnten. So viele waren es bisher, das prozentual vier bis fünf Millionen Deutsche unter Lebensgefahr das Land verlassen müssten. Wir erinnern uns, wie winzig im Vergleich damit die tatsächlichen Zahlen unter dem Hakenkreuz waren.
Bis 2009 haben es viele Zehntausend geschafft. Heute leben sie über die ganze Welt verstreut. Manche, nicht so viele, dass man von ihnen gesprochen hätte, sind auch nach Deutschland gekommen und leben hier. Das Jahr 2009 wurde zum Schicksalsjahr für die Bootsflüchtlinge am Mittelmeer. Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi tat damals, wovon EU-Strategen heute träumen. Er machte einen Polit-Deal und ließ keine Flüchtlingsboote mehr aufs Meer.
Die Situation im Zwangsarbeitsstaat Eritrea blieb aber so unerträglich, wie sie war. Deshalb suchten die Entkommenen jetzt Zuflucht über die Sinai-Halbinsel in Israel. Nach kurzer Zeit machte Israel rigoros dicht, mittels eines wirklich unüberwindlichen Grenzzaunes. Entsetzlicher noch: auf dem Sinai explodierte ein verbrecherisches Entführungsgewerbe auf IS-Niveau: Mit einem Unterschied: Sie köpfen nicht. Diese Entführer foltern ihre Opfer am Telefon, sodass Verwandte in Europa oder Amerika mithören mussten. Ihre Lösegeldforderungen sind mittlerweile astronomisch, auch für die Verhältnisse eines deutschen Normalsparers.
2011 war dann Schluss mit Gadaffi. Der Umsturz samt Intervention europäischer Staaten kostete ihn Macht und Leben. Libyen zerfiel. Die Reeder der Flüchtlings-Nussschalen nahmen ihr Geschäft wieder auf. Wir gewöhnten uns an die Meldungen von tödlichen Unglücken. Hin und wieder fiel auch der Name Eritrea, wenn es um die Herkunft der Toten ging. Bis zum 3. Oktober 2013, als Europa wirklich zusammenschrak. 369 Menschen in Sichtweite von Lampedusa ertrunken! 369 von mehr als 500 an Bord. Die Herkunftsangabe war diesmal einfach: fast alle aus Eritrea.
Inzwischen addieren sich die Ertrunkenen auf das Mehrfache der Titanic-Katastrophe. Um irgendetwas zu tun, will ein Teil der Mächtigen Europas jetzt „Schiffchen versenken“ zum Programm machen. Leere Schleuser-Boote in den Grund bohren, von See her, vielleicht auch aus der Luft.
Mal einen Moment lang angenommen, dieser logistische und politische Irrsinn würde in die Tat umgesetzt: die tiefschwarze Hoffnungslosigkeit der zu Zwangsarbeit unabsehbarer Dauer gezwungenen Jugend Eritreas würde sich um keinen Deut verändern. Alles ist für viele von ihnen besser, als das, was sie ertragen müssen. Welche horrenden Risiken sie auf sich nehmen würden, wohin sie sich wenden würden, nachdem die Mittelmeerküste und Israel ausscheiden, ich weiß es nicht. Aber bleiben ist für zu viele einfach keine Option.
Wem diese wenigen Sätze zu wenig sind, der beschaffe sich die Broschüre „Eritrea; von der Hoffnung zur Unterdrückung“, hrsg. Vom Evangelischen Missionswerk in Hamburg im April 2015
Sie werden dann noch besser verstehen, warum ein kleines Land, in dem noch niemand von uns Urlaub gemacht hat, den größten Anteil aller Flüchtlinge vom afrikanischen Kontinent beisteuert – und nach den vom Krieg gequälten Syrern die zweitgrößte Herkunftsgruppe überhaupt.