Fastenaktion 2013, 27. Februar
Als ich mich heute vor 60 Jahren, am Freitag, 27. Februar 1953, auf dem Schulweg gemacht habe, wusste ich bestimmt nicht, dass der Tag einmal das Prädikat „historisch“ tragen würde. Obwohl, ich war kein kleines Kerlchen mehr und würde die Volksschule in wenigen Monaten verlassen. Ich fantasierte von einer Sattlerlehre, weil ich Pferdegeschirre liebte. Meine Erziehungsberechtigten entschieden anders.
Während ich leichte Kost genießen durfte, das recht natur- und alltagsnahe Pensum der 8. Klasse, damals Abschluss aller normalen Bildungskarrieren, brachten Politiker und Finanzfachleute in London ein schwergewichtiges und folgenreiches finanzpolitisches Großprojekt zum Abschluss: Das „Londoner Schuldenabkommen“. Der alten Bundesrepublik wurden darin weniger als 3.000 Tage nach der Befreiung von Auschwitz rund 50% ihrer Auslandsschulden erlassen, aufgelaufen seit der Weimarer Republik, gefährlich angestiegen durch die Startkredite, die die Bonner Republik seit 1949 hatte aufnehmen müssen. Die Zahlungsmodalitäten für den Rest waren sehr vernünftig geregelt. Die Raten waren viele Jahrzehnte lang eher eine Fußnote in den Bundeshaushalten, ohne dass sie je unser Alltagsleben belastet hätten.
Neben Amerikanern, Briten und Franzosen saßen in London Regierungen mit am Tisch, deren Völker wirklich keinen Grund hatten, den Ex-Nazis Gutes zu tun: z.B. Belgien, Norwegen, Dänemark, Griechenland, Italien, Luxemburg. Die Niederlande schlossen sich dem Abkommen später an.
Seit Regierungen und Bürger in einer neuen Epoche der Wirtschaftsgeschichte wieder über Staatsschulden, Schuldenerlass und die Bedingungen dafür sprechen und streiten, ist das „Londoner Schuldenabkommen“ zugunsten Deutschlands immer genauer in Augenschein genommen worden. Die auch in meiner Kirche verankerte Initiative „erlassjahr 2000“ spielt dabei seit 15 Jahren eine maßgebliche Rolle.
Die einzelnen in London in echten Verhandlungen, nicht etwa durch Gläubigerdiktate, gefundenen Regelungen muss ich als Nicht-Volkswirt immer wieder nachlesen. Unvernunft, aber eben auch der Sieg der Vernunft findet sich bei Schuldenabkommen in den Details. Diese Details von London gelten heute als ziemlich einmalig. Sehr gut für unsere Eltern und für uns; eine Provokation für alle Völker des Südens, die seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts zu Umschuldungen oder Schuldenerlass-Verhandlungen antreten mussten. Sie wurden in der Regel überhaupt nicht wie Verhandlungspartner mit ehrbaren Eigeninteressen behandelt. Bei den wirklichen Entscheidungen der Gläubiger blieben sie vor der Tür.
Wohl wissend, dass die Euro-basierte Banken- und Staatsschuldenkrise der Gegenwart ihre eigenen Zutaten und Zusammenhänge hat: EU-Regierungen und -Bürgerinnen, die heute ihre Abhängigkeit von Zugeständnissen und Einstellungen der Wirtschaftsmacht Deutschland spüren, können von einer Gleichbehandlung mit der Adenauer-Republik von 1953 nur träumen. Ich meine nicht ein Eins-zu Eins, was konkrete Maßnahmen betrifft. Wichtiger ist diese Mut machende Verhandlungsgrundlage. Ganz oben stand in London eine Grundsatzentscheidung: Schuldendienst nur soweit, als tatsächlich von Deutschland verdientes Geld ihn möglich macht. Wäre das künftige Wirtschaftswunderland in eine Flaute gestolpert, hätten diese Atemluft-Paragraphen gegriffen. Niemand hatte die Ansicht, Lohndumping oder andere soziale Daumenschrauben für die einfachen Deutschen als „Sicherheiten“ in das Vertragswerk zu schreiben.
Wie muss dies Entgegenkommen in den Ohren späterer Schuldner klingen, sei es der Gesundheitsministerin eines afrikanischen Staates, der Gesundheitsdienste auf dem Land nicht mehr bezahlen kann; oder auch der Verantwortlichen in einem Euro-Schuldenland, das zum wiederholten mal seine Rentnerinnen schröpfen und einen weiteren Jahrgang Jugendlicher alleinlassen soll?
Gewiss haben die Unterzeichner des „Londoner Schuldenabkommens“ am 27. Februar 1953 etwas riskiert, wohl mehr der Vernunft folgend und ihren machtpolitischen Interessen als plötzlicher Deutschfreundlichkeit, für die sie noch wenig Grund hatten.
Vernunft riskieren, wo deutsche Schuld und der Zorn vieler Millionen Menschen in der damaligen Welt noch gegen das Zerreißen deutscher Schuldscheine sprachen, das hat sich als Wohltat sondergleichen für meine Generation erwiesen. Ich musste erst in der Lebensmitte ankommen und eine ganze Menge politisches ABC lernen, um das zu begreifen. Einen guten Teil unserer sozialen und wirtschaftlichen Existenzgrundlagen verdanken wir wirklich der risikobereiten Vernunft anderer Völker. Jetzt aber sind wir dran!