Europa – eine leidenschaftliche Liebesaffäre? Selbst, wenn mir rund um die Europawahl 2014 so zu Mute wäre: ein Deutscher, der noch unter dem Hakenkreuz laufen, fühlen und sprechen gelernt hat, müsste sich bei einem Coming-Out als Europe-Lover gewisse Zurückhaltung auferlegen. Die Tyrannenherrschaft der Nazi-Deutschen über große Teile des Kontinents hat mit europäischem Patriotismus nun wirklich gar nichts gemeinsam.
Aber mit einem dänischen oder portugiesischen Pass in der Tasche? Sollte ich mich dann ohne Hemmungen an die Stelle des verheirateten griechischen Obergottes Zeus phantasieren? Der ist von der jungen Europa, die sich an einem nahöstlichen Strand tummelt, so hin und weg, dass er sich in einen Stier verwandelt, mit der Schönen anbandelt und sie in die EU, genauer gesagt auf die griechische Insel Kreta entführt. Miss Europa wird zu ihrem Glück gezwungen, gerade so, wie Massen von EU-Bürgerinnen es heute empfinden. Aber es gibt meinungsfreudige antike Quellen, die behaupten, Zeus sei seines lüsternen Frauenraubes nicht wirklich froh geworden. Die Seine ist Europa jedenfalls auf Dauer nicht geworden.
An den leidenschaftlichen gehörnten Europa-Lover, heute im Wasserzeichen unserer fünf-Euro-Scheine zu finden, erinnern mich am ehesten noch die Pro-Europa-Demos vor rund 60 Jahren. Ich war zu jung und zu unwissend, zu sehr am Gängelband, um bei so etwas mitzumachen. Aber in der Kino-Wochenschau waren sie zu sehen.
Seitdem ist Europa unter wechselnden politischen Markennamen mein ganzes Erwachsenenleben lang immer konkreter, immer wichtiger, immer hautnäher, immer nützlicher, immer nüchterner geworden. Auch immer ärgerlicher, Besorgnis erregender, was die Gerechtigkeitsdezifite aller Art betrifft. Auf meinem vielleicht letzten Reisepass, den ich kürzlich beantragt habe, steht jetzt in Golddruck „Europäische Union“ und erst darunter „Bundesrepublik Deutschland“. Hinter diesem Design stehen ungezählte rechtliche und alltägliche Tatsachen. Zusammen genommen bilden sie wahrscheinlich das entscheidende Argument gegen alle Fluchtversuche zurück in nationalstaatliches Klein-Klein –
solange, ja solange Europas junge Leute der EU mitsamt ihren Demokratie- und Sozialdefiziten mehr zutrauen, als sie von ihr befürchten.
Aber deshalb gleich lieben? Da halte ich es mit Gustav Heinemann: Lieben sollen sie ihre Liebsten; vielleicht noch die Lieder, die Farben, die Düfte, die schönsten Geschichten ihrer regionalen oder nationalen Heimat. Auch die törichte Liebe des Fans zu seinem FC heiße ich willkommen, er kicke am Mittelmeer oder dort, wo in Europa die Winde rauher wehen.
Alle sollen sie Quellen kennen, aus denen sie die Lebensbejahung und die Fairness schöpfen, die nötig sind, um das Projekt Europa künftig über die politischen und emotionalen Hindernisse zu heben: das Projekt mitsamt seiner bislang wichtigsten Errungenschaft: 70 Jahre -fast – ohne Nachbarschaftskriege!