Einem in Sachen Großtechnik ziemlich ahnungslosen Menschen wie mir ist der Eurotunnel zwischen Calais/Frankreich und Folkstone/Großbritannien immer recht unheimlich geblieben. Aber es hilft nichts: seit 1994 ist das 50 km lange Riesenbauwerk unter dem Ärmelkanal Wirklichkeit. England ist keine Insel mehr, auch wenn die beiden eingleisigen Tunnelröhren weder dem König von Spanien zu Armada-Zeiten , noch Napoleon oder dem Hakenkreuz-Heer Einlass in das Vereinigte Königreich gewährt hätten.
Der Eurotunnel, genauer sein Eingangsbereich auf französischer Seite, ist kein Einfallstor für Eroberer, sondern ein Brennpunkt des Flüchtlingsdramas in Europa. Viele der jungen Männer, die in Europa etwas Besseres als den Tod suchen, tragen ein Pfund mit sich, mit dem sie im fernen Europa wuchern können: Kenntnisse der englischen Sprache. Dazu mag das Schulwissen kommen, dass ihre Heimat einst Teil des britischen Empire war. Nicht wenige Landsleute konnten früher unter glücklicheren Umständen dorthin auswandern, bis hin zur ersehnten Staatsbürgerschaft. Wer weiß, ob auch der junge Sudanese von solchen Hoffnungen getrieben war, als er gestern im Tunnel tödlich verunglückte.
Die britische Regierung lässt an ihrer harten Flüchtlings-Vermeidungspolitik keinen Zweifel. Dieser Politik zu widersprechen, solchen Widerspruch zu begründen, auf menschenrechts-konforme Asyl-Verfahren zu drängen, ist zuerst Pflicht und Vorrecht der solidarischen Kräfte in der britischen Zivilgesellschaft, Kirchen inklusive.
Der Tunneleingang bei Calais mit seinem immer wieder machtlosen französischen Wachpersonal ist längst zu einem Monument des St.Florians-Prinzips bei der Flüchtlingsabwehr geworden, wie es häßlicher kaum geht. Sollen die da drüben endlich dicht machen! Wir schieben ihnen dafür auch bereitwillig ein paar Millionen Unkostenzuschuss durch die Röhre. Ich vertraue darauf, dass es in der sensiblen britischen Gesellschaft genug Frauen und Männer gibt, die solchen Zynismus an die größt mögliche Glocke hängen.
Der Tunneleingang von Calais hat in Europa nicht seinesgleichen. Inzwischen ist er deshalb zu mehr geworden, als zu einer Herausforderung an die britische Gesellschaft. Das benachbarte wilde Lager der verzweifelt entschlossenen Männer fasst wie unter in einem Brennglas zusammen, womit sich die Völker Europas auseinander setzen müssen.
Im Bild gesprochen: die Shuttle-Luxuszüge rollen unbehelligt durch die Tunnelröhren. Europas Buisiness und Holidays bleiben unbehelligt. Aber von dem fünfzigsten Versuch, sich an irgend einen Truck zu klammern, werden auch die Toten dieses Sommers niemanden abhalten. Und was in Calais gilt, das gilt in ganz Europa, an Zäunen, an Flüssen, an Grenzübergängen, in Schleuserfahrzeugen.
In Calais sollen es vor kurzem Zweitausend in einer Nacht versucht haben. Natürlich nicht in einem sinnlosen Massenansturm, sondern stundenlang, einzeln und grüppchenweise, immer wieder; mit verzweifelt wachen Sinnen und der Hoffnung derer, die eigentlich nichts zu hoffen haben. Jenseits von Calais, in Resteuropa, bei uns, verteilen sich die Menschen mit den überwachen Sinnen und dem unbelehrbaren Willen in kleinere Einzelziele für die Wärmebildkameras der Uniformierten.
Aber die Fragen, die sie uns stellen, sind dieselben, wie in Calais.