Fahndungsplakat sinnlos?

 

In Indiens Städten gehen zornige Massen von Bürgerinnen und Bürgern auf die Straße, wieder einmal. Wieder ist ein grauenvolles Sexualverbrechen landesweit und weltweit bekannt geworden. Opfer ist diesmal eine Fünfjährige, deren sadistische Folterung jeden Erwachsenen erschüttern muss, der je das Vertrauen eines Kindes besessen hat. Versuche von Polizeibeamten, die Sache mit einem Schweige-Trinkgeld für den Vater aus der Verbrechensstatistik heraus zu halten, treiben die Wut der Menschen auf die Spitze.

 

So weit der Sachverhalt, schrecklich, aber auch hoffnungsvoll. Das Gute daran: seit Monaten läuft eine Welle konstruktiver Empörung über alltägliche, ungeahndete sexuelle Gewalt um den Erdball. Ausgelöst von dem Aufschrei des städtischen Indien über die tödliche Gruppenvergewaltigung an einer Studentin, spät abends im Bus. Seither haben Frauen und Männer in nicht wenigen Ländern ihr entmutigtes Schweigen gebrochen. Sie sind ebenso auf die Straße und vor die Fernsehkameras gegangen, von Südafrika bis Brasilien, um nur zwei große Nationen zu nennen. Sie tun, was vor jedem Parlament und jedem Präsidentenpalast Bürgerrecht und Bürgerpflicht ist: ihrem Willen und dem geltenden Recht Geltung verschaffen, die Regierenden in die Pflicht nehmen.

Trotzdem: mir ist nicht ganz geheuer, wenn ich an die Wirkung dieser weltweiten Empörungs-Berichterstattung auf unser Selbstbild denke. Was die indische Medien-Demokratie da schonungslos aufdeckt, was wir vom Kap, vom Zuckerhut und anderer Tatorten erfahren, darf nie und nimmer zu naiver Selbstgerechtigkeit führen. Bei uns nie? Nicht im deutschen Alltag! Diese Sorte Männer läuft nicht auf unseren Straßen herum! Wir wissen es natürlich besser!

 

So wahr 1,2 Milliarden Deutsche, statt Indern, wenn es sie gäbe, allein nach statistischer Wahrscheinlichkeit Tag für Tag Anlass lieferten zu einer Menge böser Schlagzeilen über Sexualverbrechen, sitzt das Unheil noch viel tiefer.

 

Der Sexualverbrecher pädophiler Prägung hat keine Nationalität, keine Religion, kein Mindesteinkommen, keine Kultur, die ihm Ausreden liefert, keinen verräterischen Bildungsgang – allenfalls, dass sein Opportunismus ihn in bestimmte Berufe schubsen kann. Er trägt typischer Weise weder Turban, noch Schlips, noch tanzt er Samba, noch kann er sich in irgend einem Klima leichter entfalten.

 

Ich erinnere mich, dass wir in einer einschlägigen Kampagne einmal ein fiktives Fahndungsplakat nach Kindervergewaltigern veröffentlicht haben. Es bestand aus einer Galerie karikierter Allerweltsgesichter, in der so gut wie jeder deutsche Männertyp vertreten war. So war es damals, Ende des 20. Jahrhunderts – und so ist es heute.

 

Das ganz große Geld beim schwerkriminellen Kinderhandel wird doch damit gemacht, zahlungskräftige Kinderporno-Kunden in unserem Teil der Welt zufrieden zu stellen. Bis zur Verhaftung – oder anderenfalls für immer – sind diese Männer Mitbürger, Landsleute, Wähler, Unbescholtene, all das. Es ist müßig, darüber zu mutmaßen, wie viele Kinder der Menschheitsfamilie Tätern mit „Wohnsitz Deutschland“ zum Opfer fallen, – zumal längst nicht alle Taten im Inland begangen werden.

 

Keine Zahl, aber eine Größenordnung: ich zweifle nicht daran, dass es für eine tägliche BILD-Schlagzeile reichen würde, wollte man alle für deutsche „Bedürfnisse“ malträtierten Kinder eines nach dem anderen der Öffentlichkeit vorstellen: kleine Philippinos, Thai-Kinder, Deutsche, Polinnen. Daneben greifen kann man bei diesem fiktiven Horrorspiel kaum.

 

Meine Solidarität mit den Frauen und Männern in den Straßen von Neu-Dehli bis Rio muss also der Zukunftsregel „Global denken – lokal handeln“ folgen. In diesen Wahlkampf-Monaten macht es ja Sinn, Frauen und Männer, die in den Bundestag wollen, nach ihren Plänen für die einschlägigen Rechtsgebiete zu fragen. Aber das kann nicht ersetzen, dass ich mit offenen Augen und Ohren durchs Leben gehe. Den „Drei Affen“, bzw. ihren Nachahmern sind schon viel zu viele Kinder zum Opfer gefallen.

 

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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