Frauenrechte in Indien Tausend x 300 oder einmal 300.000?

Gangrape, das war eines der ersten Worte, die ich Ende der 70er Jahre als Lehrling in Sachen Menschenrechte von Frauenrechtlerinnen in Indien lernte. Gangrape, zu deutsch Gruppenvergewaltigung, war ein feststehender Begriff für ein furchtbar alltägliches Verbrechen an Mädchen und Frauen. Die erste Demo, an der ich in Indien genommen habe, diente dazu, die drohende Straflosigkeit eines solchen Täters zu verhindern. Er hatte ein Mädchen im Grundschulalter furchtbar zugerichtet. Und er verließ sich – wie viele Täter – auf das Machtgefüge des ländlichen Indien: wer wird dem Sohn eines einflussreichen Landbesitzers an den Kragen gehen, weil er es mit einem „unberührbaren“ Tagelöhnerkind etwas zu heftig getrieben hat?

Eine Partnerorganisation unserer Aktion „Brot für die Welt“ brachte damals die für mich unvergessliche, in der Sache erfolgreiche Demonstration auf die Beine. Die Männer in jenem Protestzug konntest du an zwei Händen abzählen: die anderen saßen neugierig bis feixend in den Teebuden am Straßenrand. Die Polizisten machten ihren Job, allerdings recht widerwillig, wie mir schien. Und 99,9% aller vergleichbaren Verbrechen blieben ungesühnt, weil sich damals nur ganz wenige um Menschenrechte und Rechtssicherheit für arme Mädchen und Frauen auf dem Land kümmerten.

Vieles und Bewundernswertes hat sich seitdem in Indien getan. Frauenrechte sind in Indien längst kein Thema mehr für Männerwitze. Trotzdem werden die indischen Partnerorganisationen unserer Kirche und ihrer Hilfswerke nicht müde, den Finger in Wunden zu legen, die noch nicht heilen wollen: das traditionelle, religiös-kulturell verankerte Kastensystem liefert besonders die Töchter und Frauen der sog Kastenlosen – diskriminiert als „unberührbar“ – unerträglicher Willkür aus. Dann vor allem, wenn kulturelle und wirtschaftliche Ausbeutung zusammentreffen, vor allem auf dem Land.

 

In Indiens Großstädten, die seit damals einige hundert Millionen Menschen aufgesogen haben, verflüchtigt sich naturgemäß einiges von der simplen Eindeutigkeit der dörflichen Kastengesellschaft. Aber Stadtluft macht Frauen nicht automatisch frei. Die Gruppenvergewaltigung einer Studentin in einem Autobus mitten in der Hauptstadt Neu-Delhi ist der jungen Generation Indiens zur Jahreswende 2012/2013 schrecklich in die Glieder gefahren. Das Maß war voll. Von der Kastenzugehörigkeit der jungen Frau bezeichnenderweise kein Wort! Das Verbrechen mit tödlichem Ausgang, wie es zu später Stunde auch in der U-Bahn von New York oder der S-Bahn von Berlin möglich ist, ruiniert die Vision von der modernen Stadt, in der sie ihr Glück machen wollen. Darum die Explosion des Zorns einer Generation, darum die Forderung nach der Todesstrafe, die auch diesmal keine Antwort wäre.

Ich hoffe, dass sich der Zorn der jungen Städterinnen und Städter ummünzt in zukunftsfähige Gerichtspraxis. Aber die übergroße Anzahl der Verbrechen an Mädchen und Frauen könnte auch weiter möglich, weil straflos, bleiben. Noch längst nicht kräht in jedem indischen Dorf wenigstens ein Hahn nach dem, was mächtige Männer wehrlosen Frauen antun. Der Weiler im Irgendwo ist einfach nicht Delhi mit seinem Medienaufgebot. Aus gegebenem bösen Anlass tausend Kleinstadt-Demos à 300 Teilnehmer sind für Indiens Frauen wohl noch segensreicher als eine in Delhi oder Mumbai mit 300.000.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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