„Die Toten kommen“ proklamiert die Künstlergruppe „Zentrum für Politische Schönheit“ und meint damit im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge. Sie sollen aus provisorischen Gräbern an den Küsten Südeuropas exhumiert und in Deutschland nach hiesigem Standard und gemäß den Riten ihrer vermuteten Religion bestattet werden. Das Ganze nicht etwa als ein Stück verdeckten Theaters, sondern als seriöses Vorhaben, wie gestern im Beisein von Kameras in Berlin vollzogen.
Nur in zweiter Linie ein Akt der Pietät, daran lassen die Künstler keinen Zweifel. Vor allem schreien sie eine Anklage heraus, gerichtet an die Verantwortlichen für den deutschen Anteil an der EU-Flüchtlingspolitik, angefangen bei Kanzlerin und Innenminister. Ihnen persönlich soll wohl eine Mitschuld am tausendfachen Sterben auf den Schlepperbooten und im Wasser unseres beliebten Urlaubsmeeres testiert werden. Wie viel von diesem moralischen Mühlstein, der da um den Hals unserer Verantwortungsträger gehängt wird, nach Überzeugung der Aktionskünstler, anteilig den Bürgerinnen und Bürgern zukommt, bleibt ungesagt.
Und genau diesbezüglich machen es sich die Verfechter der „politischen Schönheit“ doch wohl so einfach, dass das ihr ganzes Spektakel in Schieflage gerät. Weder die Kanzlerin noch einer ihrer Vorgänger hat je proklamiert, dass die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen zur deutschen Staatsraison gehöre, so wie erklärtermaßen das Eintreten für das Existenzrecht des Staates Israel. Dergleichen zu erwarten, wäre wohl auch idealistisch-naiv. Auch die schlimme Konditionierung des international einmaligen Asylartikels im Grundgesetz im Jahr 1992 bleibt ein Schwarzer Tag für Flüchtlinge und alle, die ihnen zur Seite stehen.
Andererseits habe ich über die Jahrzehnte miterlebt, dass es in allen ernsthaft demokratischen Bundestagsparteien zu jeder Zeit Frauen und Männer gab, die unser Land zu einem besseren, zeitgemäßen Akteur für die Menschenrechte von Flüchtlingen machen wollten.
Ihr wichtigstes, oft unüberwindliches Hindernis ist der Stimmbürger. X-mal habe ich gehört, dass eigentlich richtige pro-Asyl-Forderungen bei Wahlergebnissen nachweislich negativ zu Buche schlagen. Und das klang nicht immer nach Ausrede. Es muss längst nicht immer Pegida sein, wenn man sich auf die Suche nach der inoffiziellen Anti-Flüchtlings-Bürgerwehr macht. Diese Leute pöbeln nicht, sie essen beim Italiener oder auch beim Türken; sie gönnen so gar unseren HartzIV-Empfängern ihre paar Kröten. Aber beim Flüchtling, womöglich gar dem schwarzen, sind sie mangels Lebenserfahrung und diffuser Urängste hilflos. Hilflosigkeit genügt, dass diese Massen jede Regierung abstrafen, die das Land etwas mehr für Schutzsuchende öffnen will.
Die mehrfachen Kurswechsel unserer Regierung in der Abschottungspolitik an den Mittelmeerküsten haben selbstverständlich viel mit innenpolitischem Kalkül zu tun. Da ist es bemerkenswert, dass die Groko, Länder und Kommunen derzeit nüchtern das Management für die Aufnahme von 300.000 bis 500.000 Menschen im Jahr 2015 zurechtrücken – zweifellos im Wissen, dass eine Volksabstimmung über das Projekt einen höchst zweifelhaften Ausgang hätte.
Leuten, die das anpacken, zu ihrer persönlichen Schande ihren toten Flüchtling gleichsam neben das Amt zu betten, schmeckt mir zu sehr nach Effekthascherei. Künstler mit gesellschaftspolitischem Ehrgeiz tun besser daran, sich das dickere Brett zu greifen. Das sind die Millionen, denen die ganze Richtung nicht passt; die sich jedes humanitäre Zugeständnis erst abnötigen lassen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Bei diesen politischen Patienten führt es aber wohl weiter, sie in eine örtliche Flüchtlingsunterkunft einzuladen, als auf den Friedhof.