Betrachtet im Licht von Vernunft und Wahrheit, haben sie dann etwas miteinander zu tun? Das Dorf Tröglitz in Sachsen-Anhalt und die ländliche Kleinstadt Garissa im nördlichen Kenia, nicht weit von der Grenze zum desolaten Somalia? Beide sind Standort eines demolierten Gebäudes. Beide Male ist der Zustand der Gebäude Ergebnis einer Gewalttat. Hier wie dort sind Andersgläubige die Zielscheibe gewesen. Hier allerdings überhaupt nicht anwesende Muslime, dort junge Christinnen und Christen, die zusammen mit muslimischen Kommilitonen lebten und lernten. Die Überlebenden bezeugen, dass dem Massenmord durch die al-Shabaab-Terroristen eine Selektion nach Religionszugehörigkeit voraus ging.
Tröglitz, bei mir um die Ecke. Und das nicht nur geografisch; sondern auch was das Seelenlage und die soziale Befindlichkeit von uns Bürgerinnen und Bürgern angeht, – in ihrem Dorf und in meinem. Garissa, einer der vielen Plätze, die für den rasenden Wandel der afrikanischen Gesellschaften stehen, samt dem Bildungshunger der jungen Generation. Gestern noch nicht viel mehr als eine wichtige Bushaltestelle mit dörflichem Drumherum. Heute Standort einer ländlichen Uni mit Studierenden-Wohnheimen für die somalisch-stämmige Bevölkerung der Region. Hintertupfingen aus dem Blickwinkel der Metropole Nairobi.
Tröglitz mit seiner in der Karfreitagnacht abgefackelten projektierten Flüchtlingsunterkunft. Garissa mit seiner zum Massengrab gewordenen Studentenunterkunft: nein, sie haben wirklich nichts miteinander zu tun – möchte der Bürger urteilen, der es vorzieht, mit seinen Nachbarinnen und Nachbarn in Frieden zu leben.
Aber dann darf er auch nicht mehr behaupten, dass zwischen den meist noch unblutigen Pöbeleien von Berliner SA-Männern auf dem Kurfürstendamm gegen Mitbürger „mosaischen Aussehens“ in den frühen 30er Jahren, noch vor der Machtübertragung an ihren Führer, und dem Holocaust zehn Jahre später ein Zusammenhang besteht. Genau das ist ja die Schutzbehauptung von Millionen Zeugen gewesen. Man habe doch wirklich nicht ahnen können, dass aus dem einen einmal das andere hätte werden können!
Im Fall der Kudamm-Pöbeleien von 1931, 1932 und Auschwitz ist die durchgehende Wirkungskette heute über jeden Zweifel erhaben. Auch wenn 1931 noch eine Mehrheit der Deutschen die Nazis für arme Irre gehalten hat und niemand in Berlin daran dachte, das Bürgerliche Gesetzbuch für Juden außer Kraft zu setzen. Zehn Jahre später, ein Wimpernschlag der Geschichte, ist der Nachweis geführt: religiös-rassistische Feindbilder, skrupellos genutzt, sind nahezu der tödlichste Brandbeschleuniger zur Zerstörung von Menschenleben und Gesellschaften!
Dass unsere jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn kollektiv noch einmal zu Todeskandidaten werden könnten, übersteigt mein Vorstellungsvermögen, auch wenn unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit in einzelnen Köpfen unglaubliche Phantasien wabern und dann verklausuliert ins Freie drängen. Jede große jüdische Gemeinde in Deutschland wird deshalb besser bewacht als die Studentenheime in Garissa. Bürger und Politik stehen ein für das „Nie wieder!“ Sie können und wollen nicht anders.
Aber Tröglitz und eine ganze Deutschland-Karte voller vergleichbarer Schauplätze ähneln verteufelt dem, was sich die Nazis der „Kampfzeit“ an harmloser Judenhetze herausgenommen haben. „Man muss die Leute doch verstehen, diese um Lohn und Brot gebrachten,“ hieß es damals immer wieder. Und so heißt es heute wieder, wenn meine sächsisch-anhaltinischen Landsleute unter Vortritt von NPD-Aktiven gegen Flüchtlinge, alias Muslime Front machen.
Der Jude als der eingebildete „Schmarotzer“ kam von oben, von dort, wo die Macht und das Geld vermutet wurden, als Kaufmann, Gläubiger, Verleger, in Berlin sogar als Vize-Polizeipräsident. Der Flüchtling, alias Muslim als eingebildeter „Schmarotzer“ kommt hinterhältig von unten, als Asylbetrüger, Dealer, Terroristennachwuchs.
Die Rollenbesetzung, die Phantasie, hat gewechselt. Aber warum die todsichere Rezeptur ändern? Sie funktioniert ja so gar, obwohl der Wutbürger sich längst die letzten Krümel von der christlichen Religion seiner Großeltern aus dem Anzug gebürstet hat. Ich gönne wirklich jedem Nachbarn seine Religionslosigkeit. Selber habe ich vor einem christlichen Gottesstaat nicht weniger Horror als vor einem muslimischen. Aber bitte kein Etikettenschwindel! Wer als Religionsloser das Abendland gegen mehrheitlich muslimische Flüchtlinge verteidigen will, hat eindeutig bei der Fremdenlegion unterschrieben, weltanschaulich.
Ich kann nicht vergleichen. Aber mir will scheinen, dass sich die Islamfurcht heutzutage noch leichter aufpäppeln lässt als damals der Antisemitismus. Nur wenige der mitteldeutschen Anti-Islam-Spaziergänger können auf Grundlage eigener Erfahrungen ahnen, welche guten Mächte durch gelebte Religion in ein Menschenleben einziehen, auch in das von Muslimen, Hindus, Buddhisten usw. Aber fast alle Deutschen der fraglichen Zeit erinnern sich, jüdische Mitschülerinnen, Spielgefährten oder einen jüdischen Hausarzt gehabt zu haben. Bei sehr vielen Volksgenossen wird es da recht lange gedauert haben, bis die Hass- und Ekelparolen des „Stürmer“ bei ihnen verfangen haben. Bei den Islamophoben von Sachsen-Anhalt ist dieser Filter sozialer Erfahrungen nicht existent. Das spielt den Rädelsführern in die Hände.
Perfekter noch, selbstverständlich, tun das die Mörder der al-Shabaad in Garissa. Nicht anders als das Personal des Holocausts verkörpern sie das andere Ende, das Ziel, jeder hasserfüllten Sündenbockpropaganda, wenn ihr nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird. Niemand außer ihnen selbst begreift ihr Rechtfertigungsmuster für den Massenmord an christlichen jungen Leuten. Auch ihre Machtergreifung hat vor Jahr und Tag begonnen in krisengeschüttelten Gesellschaften mit Aktionen und Parolen, die entweder totgeschwiegen oder lange als politische Nebensächlichkeiten behandelt worden sind. Sie vergewaltigen den Koran, wie die Nazis die Identität der Deutschen, ihre Geschichte, vergewaltigt haben. Die Bibel haben sie, anders als die islamistischen Mörderregime den Koran, bald einfach links liegen lassen. Mir fällt auf: die areligiöse Antiislambewegung handelt an diesem Punkt nicht viel anders.
Religiös, pseudoreligiös befeuerte Feindpropaganda ist gemeingefährlich, in welchem Stadium auch immer. Das verbindet lebenswerte Orte in Deutschland wie Tröglitz mit Garissa, der Stadt, die bis vor ein paar Tagen für lernhungrige junge Afrikaner auch sehr lebenswert war.
Mein Gebet gilt denen, die in Kenia Verstand und Herz mobilisieren müssen, damit die rasende Wut der Opfer nicht weitere tödliche Früchte trägt. Immerhin war da in einem kurzen Fernsehbeitrag dieser Student, ein Muslim, der seinen ermordeten christlichen Freund beweinte. Und auch die andere Kameraeinstellung macht Mut. Sie zeigt viele Leute in Tröglitz, die ihr Dorf auf dem Weg der Menschlichkeit und der Vernunft halten wollen.