In den Jahren nach den Frankfurter „Auschwitz-Prozessen“ von 1963-65 bin ich unvorbereitet zweien von ihnen begegnet: den niedrigen Dienstgraden der KZ-Wachmannschaften der SS, die nach damaliger gerichtlicher Praxis außerhalb strafrechtlicher Verfolgung standen – vorausgesetzt, sie hatten keine teuflische Berühmtheit erlangt, wie z.B. der gleichnamige Erfinder des Folterinstrumentes „Boger-Schaukel“. Viele zehntausend Männer und auch Frauen sind seit der Gründung des KZ Dachau im März 1933 bis zur Befreiung der letzten Lager im Frühjahr 1945 in den Personallisten der Vernichtungslager und der normal-mörderischen KZs registriert gewesen. Wie viele von ihnen ihren schrecklichen Arbeitsplatz eifrig angestrebt haben, wie viele sich treiben ließen, bis sie in der Lager-Schreibstube landeten, wie viele tatsächlich mit ihren Versetzungsbefehlen gehadert haben? Da tobt der Streit der Meinungen und Rechtfertigungen. All das hat es vielfach gegeben. Die erste Gruppe war dabei nicht die kleinste.
Ich habe nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit zwei der damals strafrechtlich Aussortierten eines Tages getroffen. Sie hatten wie die meisten den Krieg überlebt und waren äußerlich längst zur Ruhe gekommene Bürger der alten BRD geworden. Denn als Gemeindepfarrer im Ballungsraum Ruhrgebiet, der bei seinen Leuten anklingelte, traf man irgendwann eben auch auf solche Anbefohlenen. Die SS-seitig gewünschten Kirchenaustritte waren längst rückgängig gemacht oder seinerzeit auch gar nicht vollzogen worden. Und wenn ich richtig gelesen habe, war die SS-Affinität unter den evangelischen Männern signifikant höher als unter Katholiken.
Auf Auschwitz, beide Male war es Auschwitz, zu sprechen gekommen sind wir auf Initiative der Besuchten. Im Kennenlernschwatz war da unvermittelt von der „schweren Zeit“ die Rede, die man durchlebt habe. Ich erinnere mich, dass zeitweise Angst vor der „Rache der Polen“ bei Kaffee und Kuchen zur Sprache kam. Aber der junge Pfarrer, das war unmissverständlich, möge doch endlich bestätigen, dass sich ein auf Befehl Diensttuender in Auschwitz 1970 nichts mehr vorzuwerfen habe. Ich weiß nicht mehr, durch welche Bemerkung: aber der ehemalige Wachmann machte mir klar, dass er meine berufliche Verschwiegenheitspflicht sehr wohl kannte. Und er hatte Recht damit.
Die ähnliche zweite Begegnung ergab sich zwei, drei Jahre später in derselben Stadt – wieder mit der hintergründigen Erwartung einer Art Lossprechung im Namen unserer Kirche. Hätte ich tatsächlich meinen beruflichen Kodex verletzt und die Namen der Ex-Auschwitz-SSler an die damalige Zentralstelle in Ludwigsburg weiter gegeben: das Ergebnis wäre absehbar gewesen. Einfache Handlanger ohne individuell zuzuordnende Verbrechen hätten ihre Straffreiheit schriftlich bekommen.
Ob der Vorsitzende Richter am Landgericht Lüneburg, der diese Woche einen 94jährigen ehemaligen einfachen Auschwitz-Wachmann in erster Instanz wegen Beihilfe zu 300.000 Morden zu vier Gefängnis verurteilt hat, zur Zeit meiner Begegnungen mit Auschwitz-Aufsehern schon geboren war oder nicht, ist nicht wichtig. Klar ist, dass er nicht mehr zur Zeitzeugen-Generation, nicht einmal der der Kriegskinder gehören kann. Die Pensionierungsordnung deutscher Richter steht schlicht dagegen. Unstrittig ist wohl auch, dass es nicht darauf ankommt, ob der Verurteilte noch in eine behindertengerechte Haftzelle eingeliefert werden wird. Unglaublich wichtig ist, dass überlebende Opfer als Nebenkläger den Prozess als Befreiung für ihre gequälten Seelen erlebt haben.
Wir alle begreifen die zentrale Botschaft. Der nachgeborene Richter spricht in unser aller Namen – egal zu welcher Generation wir gehören: Beihilfe war aufs Ganze gesehen das Fundament der Allmacht des verbrecherischen Staates; egal, ob sie in Auschwitz geleistet wurde von Gepäckaufsehern und Bargeld-Registrierern hinter ihrer Schreibmaschine; aber auch überall dort, wo sonst zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 9. Mai 1945 „dem Führer entgegengearbeitet“ worden ist.
Um zwei Generationen zu spät und für die in der Registratur abgelegte Rechtssprechung nicht mehr richtungsweisend, ist endlich ausgesprochen, was nach 1965, nach den Frankfurter Prozessen unsagbar war und blieb: nie hätte es eine Freistellung von Mitschuld und Mitverantwortung für Männer und Frauen geben dürfen, die mit intakten Sinnen den Großteil der manpower des mordenden Staates abgegeben haben. Im Fall der KZ-Teams mag dies Urteil unter den Nachgeborenen jetzt Allgemeingut werden, hoffentlich. Die Bürger des 21. Jahrhunderts nehmen in ihr Geschichtsbild hinein, was 50 Jahre zuvor wütend zurückgewiesen worden ist.
Die Älteren und Alten kommen freilich nicht an der ätzenden Frage vorbei, wie es sich sinngemäß mit all den anderen Lebenssituationen verhält, in denen die braunen Herren selbstsicher auf ungezählte kleine Leute setzen konnten: auf Denunzianten, Fanatiker, Karrieresüchtige, Feiglinge, Kadavergehorsame, Nachbeter, was auch immer. Was gibt es Schlimmeres als Beihilfe?
Den Jungen sei Wachsamkeit ans Herz gelegt: böse Herrenmenschen, die auf Beihilfe setzen, sterben nicht aus.