Als ich zuletzt in Irland war, mussten Homosexuelle dort noch den Richter fürchten. Lange vor 1993 war das , als die Strafbarkeit homosexueller Beziehungen endlich fiel. Thema unseres irisch-deutschen Theologenmeetings war aber damals nicht Sex, sondern die Rolle von Christen und Kirchen im religiös eingefärbten Bürgerkrieg. Der terrorisierte nicht nur die Bevölkerung im britischen Nordirland. Er traf auch die Menschen in der Republik Irland. Mutige und kluge Menschen des Friedens wurden händeringend gesucht.
Für irische Verhältnisse war unsere Meeting insofern untypisch, als die irischen Frauen und Männer zur protestantisch-anglikanischen Minderheitskirche gehörten. Wie wir selbst, durch die Bank verheirate Leute und Eltern; also unbeschwert, was das Leben unter dem katholischen Gebot des Zölibats betrifft. Damit auch nicht im Gewissen belastet von vielem, was manchen katholischen Klerikern damals noch im Geheimen auf den Seelen lastete.
Aber, wie gesagt, für uns war Irland damals in Nord und Süd ein Land auf der Suche nach Frieden. Die Verantwortung der Kirchen war immens, zumal einige üble Hardliner des Konfliktes prominente Kirchenleute waren. Uns Deutsche hat inspiriert, wie Christinnen und Christen beider religiöser Blöcke unter hohem Risiko dagegen hielten.
Die kaum fassbaren wiederholten Enthüllungen der letzten Jahre über sexualisierter Verbrechen an Kindern, über Jahrzehnte begangen von irischen Klerikern, konnte ich mir nicht von der Seele halten. Da kam so gut wie alles zusammen, was mich unwillkürlich an das zornige Urteil Jesu über Untaten gegen Kinder denken lässt. Und die das getan haben, sind ja wirklich meine Brüder. Ökumene kontiert nicht nur auf der Haben-Seite des Christentums. Ihre Bilanzen betreffen uns auch dann gemeinsam, wenn es sich um Schreckensbilanzen handelt. Unter den Teppich kehren, solange kirchliche Obere noch die Möglichkeit dazu sehen, ist kein exklusives Persönlichkeitsmerkmal katholischer irischer Bischöfe.
Vieles von der für Zeit und Ewigkeit unverzeihlichen Rolle der Kirchen im deutschen Nazistaat ist nach 1945 verbrämt, geleugnet worden. Selbst das sog. „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ enthält bekannter maßen kein Wort über das, was die Welt heute den Holocaust nennt. Ich muss also wissen, was eine Kirche an Schuld auf sich laden kann.
Deshalb bin ich kaum überrascht von der Meldung, dass die überwiegend katholischen Iren nicht mehr auf ihre Pfarrer und Bischöfe gehört haben, als sie über eine Verfassungsänderung abzustimmen hatten. Reichlich 60% der Wahlbürger haben die gleichgeschlechtliche Ehe neben der heterosexuellen als Verfassungsgut anerkannt. Einer über Jahrhunderte und viele Generationen den Lebensrahmen des Volkes gestaltende und bestimmende Kirche wird dramatisch das Mißtrauen ausgesprochen, viele hunderttausend mal. Definitiver geht es nicht, zumal ein Aspekt menschlichen Sexuallebens betroffen ist. Gerade hier krachen ja Anspruch und Schuld dieser konkreten Kirche so furchtbar aufeinander.
Ob die Änderung der Verfassung der Republik Irland eine wegweisende Errungenschaft ist? Vermutlich ja, wenn sie auch die Glaubensfreiheit derer, die nicht so denken, gelten lässt.
Aber das andere geht mir tiefer unter die Haut: die Dokumentation des nachhaltigen Glaubwürdigkeitsverlustes einer zeitgenössischen Kirche im Zeitraffertempo; so tiefgreifend und unausweichlich, dass dagegen die ganze irisch-katholische Nationalkultur rund um den heiligen Sankt Patrick Schnee von gestern zu sein scheint.
Es liegt nahe, dass es mich dabei auf die Dauer nicht in Irland hält. Auf meiner Seele lastet keine Verantwortung für sexuelle Gewalt gegen Kinder, noch hat mich meine Kirche je genötigt, ein lebensfeindliches Bild von partnerschaftlichem Leben zu vertreten.
Aber ich muss verstehen und ertragen, warum meine Kirche mindestens so hilflos ist wie die Katholische Kirche in Irland, wenn es gilt, unseren Landsleuten Orientierungshilfe zu geben auf dem Weg zu Gerechtigkeit, Frieden und der Bewahrung der Schöpfung.