Als Model für den Talar-Katalog ist er nicht gerade erste Wahl. Man hat schon attraktivere Männer seines Standes gesehen. Seine Berufsauffassung läßt auch zu wünschen übrig. So gehört er ganz und gar unzeitgemäß zu den regelmäßig autofahrenden Pfarrern. Nur hin und wieder erzielen Ehefrau und schlechtes Gewissen im Verein einen Achtungserfolg und hieven den graubärtigen Brocken aufs Fahrrad. Dieser Tage fiel ein kleiner Umweltsieg sogar noch ein wenig respektabler aus. Die Dreckschleuder Auto blieb sogar bei Nieselregen in der Garage. Anorak, Schal und Wollmütze boten objektiv ausreichenden Schutz vor den Unbilden der Witterung.
Der radelnde Pfarrherr hatte bereits die unangenehmsten demotivierenden Steigungen seiner Wegstrecke hinter sich und jeden Ärger über die unbequeme Fortbewegungsweise als sinnlos abgetan. Stattdessen gedachte er, die Privilegien in Anspruch zu nehmen, die Hernes Stadtväter der winzigen radikalen Minderheit der Radler vorbehalten haben. Die rot gepflasterten Radwege, die neuerdings an manchen Stellen den Fußgängern, keineswegs den Autofahrern abgeknapst worden sind. Selten wie eine aussterbende Tierart vermag die Handvoll einheimischer Radfahrer den Fußgängern aber kaum Achtung vor ihrem exklusiven Verkehrsweg einzuflößen. So auch diesmal. Ein etwa 10jähriger Knabe mit Walkman im Ohr steht, wo er nicht stehen sollte. Der Pfarrer bedient kräftig die Schelle, sinnloserweise. Da aber auch Blickkontakt besteht, tritt der Knabe beiseite. Der Radfahrer quittiert dies mit einem freundlichen Kopfnicken. Dem Knaben indes, als er diese graubärtige Masse mit der oben thronenden Zipfelmütze auf sich zurollen sieht, entfährt es: „Is cool, man.“ Dazu blitzen seine Augen einen kameradschaftlichen Gruß über die Generationen hinweg.
Den Pfarrer trifft es wie Amors Pfeil. Offensichtliche Anerkennung aus dem Munde eines Kids, das seine Leitbilder aus dem Vorabendprogramm des Fernsehens bezieht. Anerkennung dieser Art bedeutet aber auch Verpflichtung. Und die kann nur auf zwei Rädern eingelöst werden.
Unter dem Pseudonym Michael Walter in „Unsere Kirche“ veröffentlicht (12. März 1995)