Es ist ihr letzter Sturm gewesen. Aber was für einer! An der Küste haben sie ihn, den „Xaver“, registriert als Verursacher der zweithöchsten Sturmflut seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Im Erzgebirge besteht die Orkanwarnung heute, am dritten Xaver-Tag, immer noch. Und mitten dazwischen stehen sie, die fünf wetterfesten Bäume, auf einem Grundstück unserer Kirche im ländlichen Sachsen-Anhalt.
Noch stehen sie, denn ihre Fällung ist beschlossene Sache. Die beiden ausgewachsenen Birken, die haushohe Blautanne und die beiden stattlichen Lärchen stehen den lobenswerten Absichten des Hauses im Wege. Man hat viele Gäste, darunter Jugendliche und Familien mit Kindern. Denen will man – im Wettbewerb der Tagungshäuser – mehr Komfort bieten. Fahrräder und Sportgeräte brauchen z.B. bequeme Unterstellmöglichkeiten. Machen wir! Nur die fünf Bäume müssen vorher weg. In dieser Ecke der Republik ist das kein juristisches Problem. Keine Baumschutzsatzung bewahrt gesunde große Bäume vor der Säge des Grundeigentümers. Wäre ja auch noch schöner nach dieser ganzen DDR-Gängelei!
Natürlich gibt es eine Handvoll Nachbarinnen und Nachbarn, die, der Kirche von Herzen verbunden, den evangelischen Hausherren trotzdem widersprechen. Verstecken sich Kinder wirklich lieber hinter einem Fahrradschuppen vom Baumarkt als hinter ausgewachsenen Bäumen? Und nehmen all die hehren „Schöpfung-Bewahren“-Erklärungen evangelischer Kirchenversammlungen am Ende nicht auch kirchliches Grundstücksmanagement in die Pflicht? Schließlich: wiegt in der Börde, Deutschlands Zuckerrüben- und Maissteppe, eine Mischgruppe gesunder Altbäume nicht noch um einiges schwerer als in baumreicheren Gegenden?
Die Fragen werden beantwortet mit ärgerlichem Schweigen, aber auch mit dem einen oder anderen ehrlichen Wort. Natürlich kostet es, wenn zwei Großbirken ihr Laub in die Dachrinnen von zwei Kirchenhäusern rieseln lassen. Der Unterhalt eines kleinen Tagungshauses im Osten Deutschlands gleicht einem Ritt auf der Rasierklinge, verglichen mit der relativen Planungssicherheit in anderen Regionen der Evangelischen Kirche.
Der Streit verhakt sich allerdings, wenn mehr oder weniger deutlich der übliche Verdacht gegen die Bäume selbst, ihre Umwelt-, ihre Menschen- Verträglichkeit vorgebracht wird. Was ist, wenn uns demnächst ein Starkast, ein Kronenteil, aufs Hausdach fällt, oder sogar auf einen Kinderwagen samt kleinem Insassen?
Sicherungspflicht von Kommunen und Behörden: jede Baumschutz-Initiative kennt dies Argument aus Streitgesprächen und Bescheiden. Leicht zu missbrauchen, eben weil es die Fälle, die sicherndes Einschreiten verlangen, ja tatsächlich gibt. Aber diese Begründung muss eben auch viel zu viele willkürliche behördliche Holzhackerfestivals schönreden.
Behörden – und ebenso an Fällungen interessierte Grundeigentümer – haben die unglückselige Tendenz, Bäume, dort, wo sie nicht genehm sind, als Schädlinge mit Ratten und Kartoffelkäfern in eine Schublade zu stecken. Entweder wider besseres Wissen oder aus im Laufe der Zeit erworbener Ahnungslosigkeit.
Denen, die sich um das Wohl des kostbaren kleinen Tagungshauses kümmern müssen, mag ich diese Durchtriebenheit wirklich nicht unterstellen.
Aber es ist schon bitter, nach dem Abzug von „Xaver“ zu sehen, wie vital die fünf Todeskandidaten wirklich sind. Die Blautanne, ich konnte es durch mein Fenster sehen, wiegte sich 48 Stunden souverän von Orkanböe zu Orkanböe. Nicht ein Ast ihres dichtes, bodenlangen Mantels aus benadelten Zweigen, den die Windenergie hätte herausreißen können. Und das, obwohl die Menschen seit Jahrzehnten von dem Baum ihr Adventsgrün ernten und ihn so zu schlankerem Wuchs zwingen, als es natürlich wäre.
Die beiden prächtigen Birken haben gemacht, was alle Birken in solchen Fällen tun: sie haben dem Orkan lässig ein paar dünne Zweigfetzen vorm äußersten Ende der weit ausladenden Krone geopfert. Was ich auf dem Boden finde, erinnert mich an ein übermütiges Spiel mit Luftschlangen. Von Schäden an der Struktur der Bäume keine Spur! Und die großen Lärchen? Sie lassen sich anschauen als wollten sie sagen: „Orkan, welcher Orkan?“
Meine Mitmenschen, die nicht anders zu können meinen, als diese orkanerprobten Recken jetzt zu fällen, sie sind allesamt deutlich jünger als ich. Aber nicht jung genug, um auf ihre alten Tage wieder unter derart vitalen Großbäumen mit Gästen zu diskutieren oder auch nur ihre Zeitung lesen zu können.
Dabei können Bäume sorgenfrei ohne Menschen leben, aber Menschen nicht ohne Bäume.