Ich habe nie vor der Kapernaum-Kirche in Hamburg-Horn gestanden. Nach Foto und Baubeschreibung kommt sie mir aber eigenartig bekannt vor. So hat man Kirchen gebaut, damals, vor einem halben Jahrhundert im evangelischen Deutschland: moderne Baustoffe, gleichzeitig lichtdurchlässig, gemeinschaftsbildende halbrunde Räume. Buchstäblich hunderte evangelischer Kirchenbau-Projekte sind diesen Ideen gefolgt; damals, als der Bedarf zwingend erschien, als die Kirchbauvereine blühten; als Gemeindeaufbau angesagt war – obwohl unsere Kirche ihre Mitschuld am reibungslosen Funktionieren des Nazi-Verbrecherstaates noch längst nicht glaubwürdig aufgearbeitet hatte.
Kirchliche Bauakten beweisen: zwischen 1945 und und der Jahrtausendwende sind hierzulande mehr Kirchen gebaut worden, als seit der Reformation des 16. Jahrhunderts bis 1945.
Jetzt schwappen Wellen der Erregung durchs Land, weil die bereits 2002 geschlossene Kapernaum-Kirche als erste evangelische Kirche in Deutschland in eine Moschee umgewandelt werden wird. Eine muslimische Gemeinde wird demnächst ein Fest feiern können, wie ich sie als junger Mensch mehrfach miterlebt habe, wenn evangelische Gemeinden endlich aus ihren Notkirchen in die nagelneue „richtige“ Kirche umziehen konnten. Möglich wird das durch den Sachverhalt, dass ehemals „Kapernaum“ längst einem Investor gehörte, der seine Immobilie irgendwann zu Geld machen musste. Ein direkter Verkauf von Kirchengemeinde an Moscheegemeinde wäre gemäß kirchlichen Richtlinien nicht möglich und – vermute ich – auch nicht beabsichtigt gewesen.
Der Chor der Protestierenden ist wahrhaftig ein gemischter Chor. Kirchliche Funktionsträger von ziemlich weit oben, in Hamburg-Horn und anderswo engagierte Gemeinde-Aktive, Leute also, denen man kaum das Recht absprechen kann, Frustration und abweichende Meinung zu äußern. Mehrheitlich wohl aber wohl Landsleute, die den Christengott einen guten Mann sein lassen. Soweit Kirchenmitglieder, haben sie objektiv dazu beigetragen, „Kapernaum“ und massenhaft andere Sakralbauten überflüssig zu machen. Aber den zu Mitbürgern gewordenen Muslimen neiden sie nun die sichtbaren Zeichen gelebter Religion.
Weil unsere schrumpelnde Traditionskirche gewiss noch öfter vor dem „Kapernaum-Problem“ stehen wird, kann ein Blick in die Geschichte helfen, die Wogen zu glätten.
Kirche wird zur Moschee, das gab es schon öfter. Der spektakulärste Einzelfall trug sich wohl am 29. Mai 1453 im heutigen Istanbul zu. Mit der Eroberung Konstantinopels/Istanbuls durch die Muslime wurde aus der Hauptkirche der östlichen Christenheit, der Hagia Sophia, eine Moschee – die Zentral-Moschee der osmanischen Sultane. Wer die Hagia Sophia heute besucht, kommt nach dem Willen des türkischen Staates in ein Museum, weder Kirche noch Moschee. Der heutige Bauzustand bezeugt christliche und muslimische Glaubensgeschichte vom 6. bis ins 21. Jahrhundert.
Abertausende von Kirchen sind in gewalttätigen Zeiten bewusst für möglichst schäbige Zwecke umgenutzt worden. Man denke nur an die Zeiten aggressiver Kirchenverfolgung in der frühen Sowjetunion. Pferdestall war da noch eine halbwegs achtbare Nutzung. In Deutschland gab es seit der Reformation je nach Region die zwangsweise Übernahme von Kirchen durch die jeweils politisch-militärisch siegreiche Konfession.
Der Zorn über manchen Kirchenabriss durch Verfügung der DDR-Regierung hat sich in den Herzen vieler Betroffener noch nicht gelegt.
Aber all das wiegt auf der Waagschale der Geschichte wohl weniger schwer, als die flächendeckende Zerstörung der jüdischen Gotteshäuser in Deutschland seit der Pogromnacht vom 9. November 1938.
Aufs Ganze gesehen dürfte es seit dem Mittelalter erheblich öfter passiert sein, dass Gewaltakte im Namen christlicher Mächte Muslimen, Juden und anderen Frommen ihre Gebetshäuser und Tempel entrissen haben, als umgekehrt. Eroberungszüge fanden gern darin ihren krönenden Abschluss, die Tempel fremder Staatsgötter in christliche Kirchen zu verwandeln. Die Geschichte der Eroberung Lateinamerikas ist voll solcher blutrünstiger Episoden.
Verglichen mit alledem ist der „Fall Kapernaumkirche“ von tröstlicher Harmlosigkeit. Grund für den Nutzerwechsel ist „nur“ die derzeit schwindende Vitalität christlicher Gemeinden, die sich auch auf ihr finanzierbares Raumprogramm auswirkt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was los wäre, wenn wir hiesigen Christenmenschen den Magdeburger Dom in meiner Nachbarschaft ohne öffentliche Hilfe unterhalten müssten – so wie die Christenmenschen in Hamburg-Horn die ehemalige Kapernaumkirche!
Ich bin mir recht sicher: die Moscheegemeinde wird das Turmkreuz der Kapernaumkirche nicht mit der Spitzhacke herunterhauen und sich auch sonst um gute Nachbarschaft bemühen. Andererseits: auch die Evangelischen sollten ein Interesse daran haben, dass die neuen Besitzer und Nutzer ihr Haus eindeutig kennzeichnen. Bibel und Koran vermitteln nun mal Hoffnungen und Wege, die sich nicht zu einem spirituellen Eintopf verrühren lassen – auch wenn beide vielerorts gelernt haben, gemeinsam „der Stadt Bestes“ zu suchen.
Im Namen der aufgegebenen evangelischen Kirche schwingt für mich Hoffnung mit, über den aufgeregten Tag hinaus. Kapernaum, der Name des Fischerdorfes am Ufer des See Genezareth ist Menschen mit Kindergottesdienst-Vergangenheit schließlich am ehesten geläufig in Verbindung mit dem „Hauptmann von Kapernaum“, einem römischen Besatzungsoffizier also, ungläubig, ausländisch, mit Feind-Stigma. Der Mann bittet Jesus von Nazareth um Hilfe für einen sterbenskranken Vertrauten. Er meint, ein Wort von Jesus genügt. Und Jesus ist baff: „Solchen Glauben habe ich in Israel – also ,unter uns Gläubigen´ nie gefunden.“
So steht der Hauptmann von Kapernaum seitdem auf Posten, als unvergessene Erinnerung daran, dass unser Gott aus jeder Biographie, aus jeder Religion heraus, Menschen auf den Weg rufen kann, der zum Leben führt, der dem Leben dient. Auch die Herzen der Menschen, die künftig in der ehemaligen Kapernaumkirche beten werden, sind für ihn nicht verschlossen.