Fastenaktion 2013, Karfreitag 29. März
Ich stelle mir vor, es passierte in unserer Straße. In dem einen Haus herrscht Verzweiflung: heute müssen sie den jungen Mann begraben, der mit gerade einmal 30 Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Und ein paar Häuser weiter steigt die große Party zum 50. Geburtstag des Familienvaters. Die Nachbarn wissen Bescheid, dass es ein wenig lauter und länger wird. Sogar ein spontanes Hupkonzert gut gelaunter Freunde kann nicht ausgeschlossen werden.
Hier im Dorf herrschen überschaubare Verhältnisse. Der Bürgermeister traut sich was. Was würde er tun? Würde er bei dem Jubilar klingeln und um eine stillere Ausrichtung der Party bitten? Selbst er nicht. Er weiß, dass es sich hier um ein unglückliches Zusammentreffen handelt. Aber das Gesetz bietet ihm keinerlei Handhabe. Soweit reichen auch die Nachbarschaftsregeln schon lange nicht mehr. Die Landwirtschaft als verbindende Lebenserfahrung ist einem großen Agro-Industriebetrieb gewichen. Die Leute sind mehrheitlich nach der Wende zugezogen und arbeiten bei der Regierung in der Stadt. Weder Gesetz noch Sitte verhindern den Zusammenstoß von Trauer und Party.
Die kleine Gedankenübung hilft mir zu einer Position in dem Streit, der alle Jahre wieder am Karfreitag in die Öffentlichkeit drängt. Stiller Feiertag für alle, auch für die mindestens 90 Prozent ausgewiesener Weltkinder, ehrbare Bürgerinnen und Bürger, die ohne Mitgliedschaft in einer Kirche zurecht kommen? Bei uns ist das die Quote! Auch für sie Partyverbot am gesetzlichen Feiertag Karfreitag? Nur weil eine kleine Clique mehrheitlich alter Leute Anlass zur Trauer zu haben meint; noch dazu bei einem Todesfall, der beinahe 2.000 Jahre zurückliegt und sich regelmäßig keine zwei Tage später in rituellen Jubel auflöst?
Man muss seine Füße schon in die Mokassins der anderen hineinstellen, wenn man sie verstehen will. Diese indianische Weisheit steht uns Christenmenschen in der nachkirchlichen Gesellschaft wohl an. Denn wir wollen ja die Botschaft des Karfreitag festhalten und weitergeben und nicht seine Handhabung durch das örtliche Ordnungsamt überwachen. Natürlich kommt es einer willkürlichen Entscheidung gleich, wenn Menschen ohne jede Herzensbindung an die Geschichte Jesu, sogar ohne Elementarkenntnisse über sie, einen gesetzlichen Feiertag nicht nutzen dürfen, wie sie wollen.
Durch die mediale Beachtung sind meinen religiös ungebundenen Nachbarinnen und Nachbarn manche Bruchstücke islamischen Glaubenslebens inzwischen geläufiger als christliche Basisdaten. Die Kirchen können einfach keine gesamtgesellschaftlichen Gestaltungsansprüche im Blick auf den Alltag mehr erheben. Auch Weihnachten ist da keine Ausnahme, weil es ja seit Jahr und Tag kein christliches Fest mehr ist, sondern eine mit Familienparfüm eingenebelte Konsumorgie.
Was ein tatsächlich „katholisches“ Dorf in Bayern oder ein tatsächlich „evangelisch-reformiertes“ Dorf im Siegerland über Veranstaltungsgenehmigungen an Karfreitag demokratisch entscheiden, könnte man allenfalls gelten lassen. Als Gebot für alle schadet der gesetzlich stille Karfreitag – bzw. der Kampf um ihn – dem tatsächlichen Auftrag der christlichen Gemeinde mehr, als er ihn fördert.
Merkwürdig: in meiner Kindheit, bis ins Konfirmandenalter, nahezu unentrinnbar eingesponnen in evangelisch-lutherisches Milieu, war der Karfreitag zwar kollektiv tief schwarz. Aber von ihm ging auch etwas Triumphales aus. Alles lief hinaus auf „Es ist vollbracht!“ Das Siegeswort des sterbenden Jesus am Kreuz. Speziell diese Dramaturgie des Johannes-Evangeliums schien für unsere Flüchtlingsgemeinden richtungsweisend zu sein. Sie schildert Jesu Tod ja dezidiert als Sieg, mit einer ganzen Reihe von Geschehenselementen, die nur Johannes kennt. Die Folter wird nicht verschwiegen, aber sie hat keine Macht.
Heute frage ich mich, ob von diesem biblischen Sieges-Karfreitag nicht auch – und sei es unbewusst – Ansprüche an die übrige Gesellschaft ausgegangen sind. Auch 1950 hat ja schon ein erheblicher Teil der Evangelischen nicht am Karfreitagsgottesdienst teilgenommen. Außerdem war Karfreitag der evangelische Gegenentwurf zum durchaus triumphalen katholischen Fronleichnam.
Platzhirsch-Gerangel der Kirchen mit biblischen Mitteln, sozusagen.
Der Blick in die Zeitungen und das Wissen um vieles, was nicht in der Zeitung steht, macht mich sicher, dass wir unseren Mitmenschen vor allem die ganz andere Erfahrung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit dem Tod Jesu von Nazareth schuldig sind. Die, die zuerst das Markusevangelium festgehalten hat. Ungeschminkt nah am Vollzug einer gewollt grausamen Hinrichtung mit vorhergehender Folter. Mit einem verzweifelten Facit, dem Schrei Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ende der Fahnenstange, pflegen wir pietätlos zu sagen.
Das Furchtbarste an Leid und Scheitern, was Menschen zustoßen kann, ist Jesus zugestoßen, ohne Rabatt, ohne Bonus. Auch der verlorenste Mensch kann sich darin wieder finden. Um weniger geht es nicht am Karfreitag. Das kann jeder Christenmensch bedenken, – ob in der Disco 11 Kilometer weiter der Bär los ist oder nicht.
Der Unterschied zwischen Zynismus und Hoffnung liegt allein in Gottes Hand. Das stimmt. Vielleicht hat es Johannes mit seiner Siegesmeldung deshalb so eilig.