Abrahams Migration

5. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli 2010


Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandt­schaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er aus Haran zog.

(Genesis 12,1-4)

Ich bin mir sicher: diese Ursprungsgeschichte Israels – und letzten Endes des weltweiten Gottesvolkes – hat bei den Christenmenschen der letzten Generationen unterschiedliche Gefühle und Gedanken wachgerufen. Als junger Mann bin ich noch Pastor gewesen für Menschen, die ihren Wohnbezirk mehrheitlich ihr Leben lang kaum verlassen haben. Wohl gemerkt: ich rede nicht von den Münsterländer Bauern meiner Kindheit; bei denen war das sowieso so. Deshalb taten sie sich ja so schwer mit den Flüchtlingen, die ihnen auf einmal in Nebengebäude und Kammern eingewiesen wurden.

Nein, ortstreu haben auch die Frauen unserer Frauenhilfe rund um „Friedrich der Große“ ihr Leben verbracht: einmal Zeche, immer Zeche. Die Migration der Groß­eltern aus dem Osten war längst Familiengeschichte. Die polnischen Gottesdienste längst eingestellt, die Namen eingedeutscht. Die Männer, die Kumpel, hatten unter Tage den Steinstaub überlebt – oder auch nicht. Aber auch die Witwen blieben, wo sie gelebt hatten, in der Zechensiedlung. Aus ihren oft sehr schmucken Häuschen hat man sie erst für den letzten Weg heraus getragen. Und wenn sie mir, ihrem jungen Pastor, von den tollen Reisen ihrer Mädchenzeit vor oder nach dem Ersten Weltkrieg erzählten – dann meinten sie den Leiterwagen, mit dem sie zum Schiffshebewerk Henrichenburg gefahren sind; so um die 12 Kilometer Luftlinie, würde ich sagen. Für diese frommen Frauen kann es keine sympathische Vorstellung gewesen sein, einem Gottesbefehl folgen zu sollen, wie Abraham, damals noch Abram geheißen, ihn erhält:

„Gehe aus deiner Heimat, aus deiner Nachbarschaft rund um den Zechenturm, aus der Schicksalsgemeinschaft der Bergmannsfamilien in ein anderes Land, in ein anderes Leben!“ Alles, nur das nicht, hätten sie gerufen. Und die Flüchtlinge aus Schlesien und Ostpreußen hätten ihnen zugestimmt. Denn die haben ihre Flucht kaum je als Gottesführung verstanden oder verstehen können.

Das Wort „Mobilität“ in seiner technischen, vor allem aber in seiner seelischen Be­deu­tung ist ein Wort des 21. Jahrhunderts. Die einzige größere Gruppe von Christenmen­schen, die schon in früheren Generationen ihr Leben als Weg, als Unterwegssein begriffen haben, waren die Zigeuner Europas, die Sinti und Roma, sicher ein Sonderfall. Auch die Hugenotten und die aus England nach Nordamerika fliehenden Protestanten haben sich auf ihren Wegen von der Abrahamsverheißung leiten lassen. Aber auch sie Sonderfälle.

Gehe fort aus deiner Heimat! Suche dein Glück in der Ferne. Und wenn du ein religiöser Mensch bist, dann vertraue dabei auf deinen Gott. Mit dem Handy in der Tasche ist das eine ganz andere Sache, als sie es noch für die Vorfahren war, die im 19. Jahrhundert in Bremen die Auswandererschiffe bestiegen haben. „Ein Land, das Gott uns zeigen wird?“ Ein Land, von dem wir beim Aufbruch nicht einmal wissen, dass es existiert? Die Allwissenheit des Fernsehens und des Internet machen das zu einer merkwürdigen Vorstellung. In unseren Tagen haben Satelliten längst jeden Maulwurfs­hügel auf Erden vermessen. Nicht einmal um unser Reisegeld müssen wir uns allzu viele Gedanken machen. Wo der Euro nicht sowieso Zahlungsmittel ist, können wir ihn mühelos umtauschen.

Brauchen wir überhaupt noch ein Gotteswort, um auf die großen Reisen unseres Lebens zu gehen? Meine Frau und ich wissen oft buchstäblich nicht, auf welchem Kontinent sich mehrere unserer erwachsenen Kinder gerade aufhalten. Ihre Arbeit­geber scheuchen sie kreuz und quer über den Globus. Moskau oder Chicago, Peking oder Paris, ein Airport ist wie der andere. Unter „global“ tun wir´s nicht mehr.

Ich weiß, es ist nur eine ganz dünne Schicht aus Technik und politisch-wirtschaft­lichen Regeln, die uns zu Weltreisenden gemacht hat. Man muss uns nur wenig aus der Hand nehmen, und wir wären der Fremde wieder ausgeliefert wie Abraham und seine Zeitge­nossen. Sogar wir behaupten mehrheitlich immer noch, Familie, der vertraute Zusam­menhalt sei unterm Strich das Wichtigste für uns.

Vertrau mir! Deine Reise führt ganz und gar ins Unbekannte, ja. Aber wir reisen zusammen. Mein Segen, mein Schutz reist mit. Segen nicht nur für dich, sondern auch für kommende Generationen, die noch gar nicht leben.

Ich zweifle, ob die Hochrisiko-Reisenden unserer Tage, die Armutsflüchtlinge, so eine Stimme in ihren Herzen hören. Obwohl sie ja wirklich verzweifelt ein besseres Land suchen, so wie die Bremer Stadtmusikanten: „Etwas besseres als den Tod findest du überall.“ Und obwohl sehr viele von ihnen, soweit sie aus Afrika kommen, ja Christinnen und Christen sind.

Zu dem schwer Begreiflichen des Abraham-Aufbruchs – sollen wir sagen Aus­bruchs? – gehört ja, dass da kein ziemlich verzweifelter junger Mann aus blanker Not handelt. Die biblischen Erzählungen berichten von einem reichen altorientalischen Viehhalter, der mit großen Herden und jeder Menge sogar bewaffneter menschlicher Hilfskräfte seiner Heimat den Rücken kehrt.

Neben seiner Persönlichkeit ist es auch sein Reichtum, der ihm hilft, im späteren Land Israel Fuß zu fassen. Schließlich kommt er ja nicht in ein menschenleeres und herrenloses Land. Er hat einen lupenreinen „Migrationshintergrund“, mit allem Konfliktstoff, der daran hängt. Da hilft es schon sehr, dass er aus einer starken Position heraus verhandeln kann. Abraham gleicht eher dem Millionär, der heute versucht, sich in der Schweiz niederzulassen, als dem armen Teufel, der in der Spülküche einer Pizzeria von Magdeburg untertaucht.

Die Abrahamsgeschichte: ist sie, weil das Leben weitergegangen ist, alles in allem also ein Muster ohne Wert? Bestimmt nicht, wenn wir statt in Kilometern in Lebenszeit denken und fühlen. Vom heutigen Irak nach Israel, das sind, sagen wir zwei Stunden Flugzeit. Wollte ein Abraham von heute seine Herden in Güterwagen verladen, dann etwas länger. Den Schutz eines Gottes kann er brauchen, wenn man bedenkt, welche Konfliktregionen er durchqueren muss.

Aber das sind wirklich nur Gedankenspiele. Unendlich wichtiger, ungewisser, ge­wag­ter sind die anderen Aufbrüche. Auszubrechen aus der Hilflosigkeit des „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot“ – wenn wir im Jahr 2010 zwei und zwei zusammenzählen.

Unserem Gott, der Stimme Jesu zu folgen, wenn er uns zuruft, sich für Gerechtigkeit stark zu machen, vor der Haustür bis an die fernsten Schauplätze, von denen das Fernsehen berichtet, für Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Ein Leben zu suchen, in dem ich tröste und vergebe, so wie ich selbst auf Trost und Vergebung hoffe.

Das große Wagnis. Und was dem Abraham seine Herden, sein Reichtum, das sind uns die Kräfte, die Gott in unseren Sinnen und Herzen zu wecken vermag. Die Geschichte des Glaubens ist voll von Frauen und Männern, die reich waren wie Abraham, ohne dass ein Gerichtsvollzieher irgend etwas bei ihnen hätte pfänden können.

Wer immer heute irgendwo in der Weltkirche die Stimme Jesu hört, so dass sie sich nicht abstellen lässt, der mag die besten Straßenkarten seines Landes und jede Menge moderne Lebenshilfen zur Hand haben, es geht ihr und ihm nicht anders als dem Alten: eine Verheißung, ansonsten Ende offen. Gegen den Sieg des Mammon, gegen das Recht des Stärkeren anzuleben, weil das der Weg unseres Gottes ist – das ist ge­wagt. An der Börse des Lebens werden das jede Menge Profis für eine hoch riskante Investition halten. Und niemand kann sie vorab widerlegen.

Die Wege mit Jesus kann man nur beginnen – oder es lassen. Perfekt vorbereitet auf das Abenteuer des Glaubens sind wir nie. So wenig wie Abraham. So wenig wie der Fischer Petrus aus dem Sonntagsevangelium, der beim Frühstück noch nicht ahnen konnte, was ihm heute passieren würde.

Aber ein Werkzeug des Segens ist er gewiss geworden. Er und Abraham mit seiner Sara.

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