„Das Kind wuchs“ – Lebensmut

2. Weihnachtsfeiertag, 26. Dezember 2013


Aber das Kind wuchs und wurde stark, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm.

(Lukas 2, 40)

Zweimal, in ähnlichem Wortlaut, benutzt der Evangelist Lukas diesen Satz, um seine Mitteilungen über die Geburt und die frühe Jugend Jesu abzuschließen. Lukas will aus dem Leben Jesu, seinem wirklichen Leben berichten. Trotzdem erinnert der Satz ein wenig an den vertrauten Schluss vieler Märchen: „Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ „Aber das Kind wuchs und wurde stark, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm.“ Ein Satz, der feststellt, dass nach aufregenden und bedrohlichen Ereignissen nun alles aufgehoben ist in der guten Ordnung des Lebens. Lukas gebraucht diese Worte, nachdem Maria und Josef mit dem Säugling Jesus von Bethlehem über Jerusalem an ihren Wohnsitz Nazareth heimkehrt sind – und dann noch einmal nach den Aufregungen um den Zwölfjährigen, der sich bei einer Jerusalem-Pilgerreise von der Familie absetzt, um mit den Priestern im Tempel zu sprechen.

Bei Lukas, dem Überlieferer der eigentlichen Geburtsgeschichte, findet sich kein Wort von den Weisen aus dem Orient, ebenso wenig von dem furchtbaren Kindermassaker zur Liquidierung des Jesusknaben und der Flucht und dem Exil in Ägypten. Trotzdem: die Eltern haben ein gerütteltes Maß beängstigender Ungewissheit zu tragen, ob sie ihr Kind würden versorgen, behüten und aufziehen können – angefangen bei den atemberaubenden Umständen der Geburt selbst.

Wir Heutigen sind vielleicht die vierte, höchstens die fünfte Generation, für die es in diesem Teil der Welt normal geworden ist, dass Kinder im Regelfall erwachsen werden und ihre Eltern überleben. Die eigenen Kinder zu begraben, die Hälfte von ihnen oder mehr, war zu biblischen Zeiten Elternschicksal und ist es in den Armutsregionen der Menschheit vielerorts noch heute. Die Gefährdungen des Kindeswohls, wie wir das heute nennen, waren in Jesu Kindertagen weniger skandalös oder kriminell. Sie waren elementar, als Hungersnot, als Gefahren des Alltags, als nicht heilbare Krankheit, als häufig mit den Jahreszeiten wiederkehrende kriegerische Gewalt.

Über solchen dunklen Lebenserfahrungen geht die Nachricht vom Gedeihen des Jesusknaben auf wie eine strahlende Morgensonne. „Aber das Kind wuchs und wurde stark, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm.“ Keinesfalls ein Satz, der nur für dieses eine Menschenkind reserviert ist; vielmehr Ausdruck eines Glückes, das Eltern jener Zeit hin und wieder ungläubig staunend erlebten, gerade weil es alles andere als selbstverständlich war. Das nicht Selbstverständliche wird ganz von allein zum kostbaren Geschenk.

Jesus von Nazareth, Gott so nahe, dass wir ihn in menschlicher Bildersprache „Gottes Sohn“ nennen, ist ohne Abstriche ein Mensch. Auch darauf haben die frühen Christen nach leidenschaftlichen, mehrere Generationen andauernden Auseinandersetzungen bestanden. Ein Mensch, das heißt, er hat eine menschliche Kindheit und Jugend durchlebt wie wir alle. Und zwar gemäß den Gesetzen der Schöpfung oder der Evolution (ganz, wie ihr wollt) die längste Kindheit und Jugend, die wir unter den vergleichbaren Lebewesen auf dieser Erde kennen. Wenn wir das Erwachsenenleben beginnen, haben viele bewundernswerte und lebenstüchtige Mitgeschöpfe ihren Lebenshöhepunkt schon lange überschritten. Die zwei Jahrzehnte, die bis zur vollen Teilhabe am Erwachsenenleben vergehen, sind wirklich ein staunenswerter Prozess der Schöpfung vom „dummen“ Vierteljahr, das überhaupt nicht dumm ist, über die ständigen körperlichen und geistigen Horizonterweiterungen der Kindheit, die unstillbare kindliche Neugier, den Erwerb von Wertmaßstäben, die Selbsterfahrungen der Pubertät, die Stärkung des Lebensmutes, all diese wunderbaren „Programme“ oder auch ihr Misslingen.

Kindheit und Jugend sind ein wunderbarer, aus kaum zählbaren Wachstums- und Reifeschritten bestehender Prozess. Alles wirklich Wichtige darüber war auch schon elterliches Erfahrungswissen der Zeitalter und der Generationen vor unserem naturwissenschaftlichen und psychologischen Menschenbild. Aber alte Kulturen und von hohen Armutsrisiken geprägte Gesellschaften waren und sind noch sehr viel zurückhaltender, einem neu geborenen Kind eine glänzende Zukunft zu versprechen, als wir es in modernen Vorsorge- und Wohlstandsgesellschaften heute sind. Umso furchtbarer, wenn bei uns das Lebensglück des einzigen Kindes durch widrige Umstände oder gar brutale Schicksalsschläge zerbricht.

Wer heute unter uns als der Schmied des Lebensglücks der Kinder gilt, scheint ziemlich klar. Nicht eine segnende Schöpferhand ist gefragt, sondern elterliche Anstrengung, wenn nicht gar ihr Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis. Alles für das Kind, damit sie oder er es eines Tages besser hat als Vater und Mutter. Gottes Segen lässt sich nur schlecht in Bildungs-Finanzierungspläne oder gar Aktien-Depots einpreisen. Dabei steht das Lebensglück made by Papa und Mama auf einem sehr wackeligen Fundament. Es kann gar nicht anders sein. Denn unsere Kinder müssen ihren Lebensmut und ihre Lebensziele ja gewinnen in der Auseinandersetzung mit uns Eltern. Die Entscheidung, uns in wichtigen Werturteilen und Lebenszielen gerade nicht zu folgen, ist eine wichtige Zutat des Erwachsenwerdens. Im Zusammenleben als Erwachsene muss das der Liebe später keinen Abbruch tun. Aber es kann dauerhaft Schaden anrichten, nicht anzuerkennen, dass mein Kind andere Wege gehen muss, als ich es dachte. Bibelleserinnen kennen ganz knappe, kurze, aber eindeutige Hinweise darauf, dass auch den Eltern Jesu von Nazareth diese Zerreißprobe nicht erspart geblieben ist: „Deine Mutter will mit dir sprechen.“ – „Wer ist meine Mutter? Wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist meine Mutter oder mein Bruder.“ Gröber geht es kaum.

Während unsere Kinder erwachsen werden, decken sie dabei zwangsläufig unsere Schwächen und auch unsere Schuld, unser Schuldiggebliebensein auf. Das tut weh. Deshalb ist es so wohltuend, so heilend, dass uns der Zugang zu dieser Beobachtung des Lukas ja nicht verbaut ist: „Aber das Kind wuchs und wurde stark, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm.“ Wie gesagt, das ist kein Satz, der für das Kind Jesus reserviert gewesen wäre.

Solange uns der Ehrgeiz nicht den Blick verstellt, bleiben das die kostbaren, die geschenkten Aha-Momente unseres Elternlebens: wenn immer und immer wieder etwas geschieht mit unseren Kindern, durch unsere Kinder, was wir nicht gemacht haben, was uns geschenkt wird im Augenblick – in dieser einmalig langen Kindheit und Jugend, die der Schöpfer uns durchleben lässt, bis wir Verantwortung übernehmen können, wie es unsere Bestimmung ist. Ein Kind wird stark, selbst wenn es kein Talent zum Spitzensportler hat – stark im Geist, wie Heinrich Schütz bei seiner wunderbaren Vertonung dieses Satzes frei gedeutet hat. Und was mein Kind ab heute erst kann, was es noch nie zuvor fertig gebracht hat, das stellt meine Beziehung zu ihm immer auf eine neue Grundlage. Unterm Strich gibt es wohl keinen besseren Satz als diesen, der dies kostbare Erleben beschreibt: Gottes Gnade war bei ihm!