Der Auferstandene am See Tiberias

Ostersonntag, 12. April 2009


Später zeigte sich Jesus seinen Jüngern noch einmal am See von Tiberias. Das geschah so: Einige von ihnen waren dort am See beisammen – Simon Petrus, Thomas, der auch Zwilling genannt wurde, Natanaël aus Kana in Galiläa, die Söhne von Zebedäus und zwei andere Jünger. Simon Petrus sagte zu den anderen: „Ich gehe fischen!“ – „Wir kommen mit“, sagten sie. Gemeinsam gingen sie zum See und stiegen ins Boot; aber während der ganzen Nacht fingen sie nichts. Es wurde schon Morgen, da stand Jesus am Ufer. Die Jünger wussten aber nicht, dass es Jesus war. Er redete sie an: „Kinder, habt ihr nicht ein paar Fische?“ – „Nein, keinen einzigen!“ antworteten sie. Er sagte zu ihnen: „Werft euer Netz an der rechten Bootsseite aus! Dort werdet ihr welche finden.“ Sie warfen das Netz aus und fingen so viele Fische, dass sie das Netz nicht ins Boot ziehen konnten. Der Jünger, den Jesus besonders lieb hatte, sagte zu Petrus: „Es ist der Herr!“ Als Simon Petrus das hörte, warf er sich das Obergewand über, band es hoch und sprang ins Wasser. Er hatte es nämlich zum Arbeiten abgelegt. Die anderen Jünger ruderten das Boot an Land – es waren noch etwa hundert Meter – und zogen das Netz mit den Fischen hinter sich her. Als sie an Land gingen, sahen sie ein Holzkohlenfeuer mit Fischen darauf, auch Brot lag dabei. Jesus sagte zu ihnen: „Bringt ein paar von den Fischen, die ihr gerade gefangen habt!“ Simon Petrus ging zum Boot und zog das Netz an Land. Es war voll von großen Fischen, genau 153. Aber das Netz riss nicht, obwohl es so viele waren. Jesus sagte zu ihnen: „Kommt her und esst!“ Keiner von den Jüngern wagte zu fragen: „Wer bist du?“ Sie wussten, dass es der Herr war. Jesus trat zu ihnen, nahm das Brot und verteilte es unter sie, ebenso die Fische. Dies war das dritte Mal, dass sich Jesus seinen Jüngern zeigte, seit er vom Tod auferstanden war.

(Johannes 21, 1-14)

Auch dies eine Ostergeschichte! Aber weil sie in den Ostergottesdiensten nur ganz selten vorgelesen wird, ist sie uns kaum vertraut. Für den Evangelisten Johannes, der Jesuserlebnisse gelegentlich nummeriert, gibt es aber keinen Zweifel: nach der Begegnung des Auferstandenen mit den Frauen und danach hinter verschlossenen Türen mit allen Jüngern ist das die dritte Offenbarung des Auferstandenen, von der er berichten will. Die Ortsangabe mag uns verwirren. See Tiberias, das ist ja nicht mehr Fußgängerentfernung von Jerusalem so wie Emmaus, das Ziel der beiden trauernden Jünger, zu denen sich der Auferstandene unerkannt dazugesellt. See Tiberias, das ist die alte Heimat, die Provinz Galiläa, woher viele der Jesus-Leute stammen. See Genezareth heißt er sonst, damals wie heute. Johannes nennt ihn See Tiberias nach der wichtigsten Fischergemeinde an seinen Ufern. Hier wird es Ostern. Ohne dass Worte darüber gemacht werden, eine ungewisse, aber längere Zeit nach dem Morgen, an den die Christenheit heute denkt. Denn sie müssen ja erst heimkehren, in die alte Heimat, an die alte Arbeit; jene Fischer vom See, die Jesus einst von ihrer Arbeit wegrief, ihm zu folgen.

Galiläa, die alte Heimat, Ort der Begegnung mit dem Auferstandenen: eine Verabredung gewissermaßen, die sich durch die Ostergeschichten zieht. Matthäus spricht davon, Jesus habe die Jünger nach Galiläa bestellt, weil er sich ihnen dort zeigen wollte. Und Israel-Touristen können heute, wenn ihr Herz danach verlangt, dort den Berg der Himmelfahrt besteigen.

Was unser Glaube von dieser Ostergeografie festhalten darf? Zuerst einfach die Beobachtung, dass der Auferstandene keine Fesseln von Zeit und Ort kennt, wenn er den Glauben der Seinen wieder aufrichten oder überhaupt erst wecken will. Jerusalem, Emmaus, See Tiberias, Damaskus in Syrien und viele andere Orte, die der Christus-Zeuge Paulus ausdrücklich nicht nennen will.

Aber zurück zu Ostern am See. Zählt man die Beteiligten aus, dann sind sie sieben. Der Kreis der Zwölf bzw. noch Elf scheinen nicht mehr beisammen zu sein. Offensichtlich sind sie nicht auf Urlaub, sondern zurück im Beruf. Wie glücklich oder wie unglücklich? Wie verständnisvoll oder wie hämisch von ihrer Nachbarschaft wieder aufgenommen? Getröstet durch die Begegnung mit dem Auferstandenen in Jerusalem, die sie nach dem Erzählgang des Johannes ja miterlebt haben müssen? Alles müßige Fragen. Denn alle Antworten wären nicht dem Text entnommen, sondern allein unserem Versuch, uns in solche Menschen mit diesen Erfahrungen hineinzuversetzen.

Etwas anderes ist dafür umso eindeutiger. Diese ganze Erzählung muss uns bekannt vorkommen. Vergeblicher Fischfang. Ein Befehl Jesu, es erneut zu versuchen, übervolle Netze; die Erkenntnis, mit wem sie es zu tun haben; die Geburtsstunde einer Beziehung, die das Leben verändert. Das ist der Fischzug des Petrus, zu finden im Lukasevangelium, dort erzählt als Begebenheit vom Beginn der Wirksamkeit Jesu, wie er seine engsten Jünger findet und gewinnt. „Von nun an sollst du Menschen fischen.“ Ein Bund, der hält, bis Petrus nächtens Stein und Bein schwört, Jesus nicht zu kennen. Im Johannesevangelium ist aus der Geschichte vom Anfang eine Ostergeschichte geworden. Kein Zweifel, aber was bedeutet das?

Den Anfang macht die Gestalt am Ufer. Unbekannt, richtiger wohl: unerkannt. Wir sollten das nicht verwechseln mit einem Fahndungsfoto aus „Aktenzeichen XY… ungelöst“ „Wer kennt diesen Mann?“ Es geht nicht um Äußerliches. Es geht um die Unwissenheit des Herzens. Mehr als einmal passiert uns das so im Leben: wir können noch nicht wissen, wie wichtig, wie entscheidend eine Begegnung für unser weiteres Leben werden wird, zum Guten, aber auch zum Verhängnisvollen. Am einfachsten vielleicht so zu verstehen: wie war unser Leben eigentlich, bevor wir unseren Lebenspartner, unsere Lebenspartnerin kannten, bevor wir uns sicher wurden: sie, er soll es sein. Ungezählte Menschen sehen Jesus irgendwo stehen an der Uferlinie ihres Lebens – ohne zu wissen, wie wichtig, wie wegweisend er für sie werden kann, plötzlich oder nach und nach. Sie sehen hier bei uns im Ursprungsland der Reformation die Dome und Dorfkirchen, Symbole der Kirche, die sich im Namen dieses Jesus regt – gewiss. Sie profitieren von Feiertagen, z.B. dem morgigen 2. Ostertag, ohne wirklich zu wissen, was das soll. Sie hören unsere Repräsentanten zu diesem oder jenem im Fernsehen reden, aber die Person am Ufer bleibt ihnen fremd.

Doch machen wir uns nichts vor. Was für Weltkinder, in dritter Generation ohne Jesusgeschichten und prägende Kirchenerlebnisse aufgewachsen, mehr als verständlich ist – es trifft genauso Leute, die mit Jesus schon reichlich zu tun hatten, die Jünger am See und uns sowieso. Wenn ich mir einbilde, ich beherrschte das Glauben genauso wie das Autofahren, ist Jesus plötzlich nicht mehr als nur noch eine anonyme Gestalt irgendwo am Strand meines Lebens.

Die Veränderung, die Auflösung der Glaubensstarre, beginnt mit Jesu Wort, immer, in allen Ostergeschichten. Auch hier am See. Ohne das Wort des Auferstandenen bleibt alles beim Alten, bleibt Erinnerung, Trauer. „Habt ihr nichts zu essen?“ Das, was Fischer normalerweise anzubieten haben. „Nein“. Ihre Arbeit war erfolglos. Sie hören, wie sie es noch einmal versuchen sollen. Dass sie es tun; warum sie es tun, wird nicht begründet. Es ist geschenktes Vertrauen, geschenkter Glaube. Der Osterglaube ist kein Produkt unseres Herzens. Er ist ein Geschenk an unser Herz.

Und immer geht in den Ostergeschichten der Mund über von dem, wovon das Herz voll ist. „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete?“ fragen die einen. „Der Herr ist tatsächlich auferstanden“, rufen die anderen. „Es ist der Herr“, rutscht es im Boot einem der Jünger heraus, der sich mit dem plötzlich so schweren Netz abmüht. Viele Ausleger sehen in ihm jenen Johannes, der mit dem gleichnamigen Evangelium zu tun hat. Petrus der Fischer bleibt der Rolle treu, die er in den Osterüberlieferungen des Johannes-Evangeliums einnimmt. Er, nicht die Frauen, betritt als erster die leere Grabeshöhle. Auch jetzt ist er vorneweg. Er springt ins Wasser und schwimmt ans Ufer, nachdem er ein Kleidungsstück übergeworfen hat, das für die Begegnung mit dem Heiligen angemessen erscheint. Ein leicht komischer Osterwettlauf über knapp 100 Meter: ein Schwimmer gegen eine rudernde Bootsbesatzung samt ihrem Netz im Schlepp.

Aber sein Eifer scheint dem Petrus keinen Vorteil zu bringen. Der geschenkte Osterglaube des einen ist nicht mehr wert, bringt keinen höheren Ertrag als der geschenkte Osterglaube der anderen. Oder wie wir es aus dem Gleichnis Jesu von den verschieden lange arbeitenden Erntehelfern im Weinberg kennen: einen und denselben für Leib und Seele ausreichenden Tagelohn für alle – mehr gibt es nicht, weniger auch nicht.

Am Ufer treffen sie alle auf den vorbereiteten Tisch Jesu: bescheiden, aber genug für alle. Brot und Fisch, die Grundnahrungsmittel für die Speisung des Volkes. Aus ihrem vollen Netz dürfen die Jünger hinzulegen zu dem, was Jesus schon bereitgehalten hat. Das Internet ist übrigens voll mit allerlei esoterischen Spekulationen über das Zählergebnis dieses Fischfangs: 153 große Fische. Unser Glaube hat dabei nicht viel zu gewinnen. Erinnern wir uns einfach an das Wort von den „Menschenfischern“. Ob man damals 153 Fischarten kannte oder 153 Völker, wir haben es gewiss zu tun mit einem umfassenden Versprechen für den Lauf der frohen Botschaft. „Geht hin und macht Menschen aus allen Völkern zu Jüngerinnen und Jüngern.“

Ostern am See endet mit einem Mahl in unglaublicher seelischer Verfassung. Von Jesus eingeladen essen sie miteinander, schweigend, wissend, frei von Zweifel – aber voller Hemmung gegenüber der Neugier, die nach Bestätigung verlangt. Ja, eine Ostergeschichte, die sich zwischen Jerusalem und Magdeburg zu schieben scheint. Jerusalem, wo Jesus, was ihn selbst angeht, Überzeugungsarbeit leisten muss und es auch tut: „Ich bin es selbst“, also kein Gespenst; fasst mich an; gebt mir zu essen! Ostern am See, wo Jesus kein einziges Mal „Ich bin es“ sagt; wo die Jünger dennoch begreifen und schweigen. Und Magdeburg zu Ostern 2009: für dich und mich ist Jesus kein Unbekannter auf der anderen Straßenseite oder in der Zeitung. Aber vielleicht so etwas wie die alte Wasserpumpe in meinem Garten. Dekorativ aber wirkungslos, weil sie schon lange keinen Liter Wasser mehr an die Oberfläche gepumpt hat. Ich werde sie nicht abbrechen. Aber ich rechne auch nicht mit ihr, wenn Wasser gebraucht wird.

„Komm und nimm mich beim Wort“, sagt Jesus. Nimm Wasser für deine verdorrten Hoffnungen. Frage mich. Ich werde dir antworten. Ich werde mit dir neu anfangen, so wie mit denen, die nicht anders gekonnt hatten, als zu fliehen. An meinem Tisch bist du willkommen, ob du wissend schweigst oder glücklich rufst: „Es ist der Herr!“

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