Der Eckstein

Ostersonntag, 4. April 2010


Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Das ist vom HERRN geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen. Dies ist der Tag, den der HERRR macht; lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein.“

(Psalm 118, 22-25)

(Die Gottesdienst-TeilnehmerInnen haben den ganzen Psalm 118 in gedruckter Form vorliegen.)

Schön wäre es, Martin Luther stünde statt meiner hier auf der Kanzel. Der predigt sowieso hundert Mal besser. Und es wäre ihm eine ganz besondere Herzenssache gewesen, euch den 118. Psalm auszulegen. Der war einfach, so bekennt er, sein Lieblingspsalm. Er fand ihn schön, er hat ihn richtig genossen. „Das schöne Confitemini“ nennt er ihn, nach dem ersten Wort der lateinischen Übersetzung „Confitemini Domino quoniam bonus est“, „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich“. Ja, das ist nichts Neues: man kann sich in Dichtungen und Geschichten der Bibel verlieben, in manche eben mehr als in andere. Und die werden dann zu Wegbegleitern. Kein Wunder auch, dass der 118. Psalm, einer der Oster-Psalmen, voll von Konfirmationssprüchen steckt. Der erste Vers, wortgleich mit dem letzten, ist uns aus unseren Abendmahlfeiern vertraut. Zum Oster-Psalm ist der 118. Psalm durch die Verse geworden, die in eurem Ausdruck hervorgehoben sind. Hören wir sie noch einmal! (Lesen).

Was wir gehört haben, ist Teil eines mehrstrophigen Liedes zum Lob Gottes, gedichtet Hunderte von Jahren, bevor Jesus von Nazareth geboren wurde, Hunderte von Jahren vor seinem Kreuzestod und seiner Auferweckung. Aber als die Jesus-Leute – fromme Juden, die sie waren – nach Ostern ihre Bibel lasen, da traf es sie bei diesen Sätzen mitten ins Herz. Ja so, genauso ist es mit Jesus. Der Stein, den man auf den Abfallplatz geworfen hatte, trägt nun den ganzen Bau ihres Glaubens und ihrer Hoffnung.

Das Bild vom wählerischen Baumeister gehört in die Zeit vor Verschalungen und Stahlbeton. Es hat nichts zu tun mit den symbolischen Grundsteinen, auf die Prominente mit einem silbernen Hämmerchen klopfen. Angefangen beim Tempel in Jerusalem, über Zehntausende historischer Kirchen und anderer Steinbauten: die Grundsteine, die diesen Namen verdienen, sie mussten wirklich tragen, ungeheure Tonnenlasten für unabsehbare Jahrhunderte. Und die Ecksteine, auf die das Gewicht von Gebäudewinkeln drückt, das waren Grundsteine besonderer Art. Der erfahrene Baumeister nahm sich alle Zeit der Welt, solch einen Koloss immer wieder zu prüfen, ehe er verlegt wurde: mit dem Auge, mit Hammer und Ohr, um sich nicht täuschen zu lassen von prächtigem Äußeren, um keine verborgenen Risse zu übersehen, die später Anlass für Katastrophen bieten können. Ein Stein, der nicht hundertprozentig taugt, wird konsequent ausgemustert. Schlagt ihn klein zu Schotter für den Straßenbau, wie ich das in Indien oft gesehen habe. Aber bringt kein Bauwerk durch einen porösen Grundstein in Gefahr!

Jesus der Eckstein ihres Lebens. Dessen waren sie sich sicher, die Jüngerinnen und Jünger, nachdem er ihnen zugerufen hatte: „Folge mir nach.“ Deshalb haben sie alles zurückgelassen, was bis dahin ihr Leben ausgemacht hat, und sind mit ihm gegangen. Er war die Gegenwart. Er war die Zukunft. Und dann wurde dieser Eckstein geprüft und weggeworfen. Von den Glaubensrichtern seines Volkes. Für den Bau des Gottesreiches nicht mehr zu gebrauchen. Bei den Jüngerinnen und Jüngern der abgrundtiefe Schmerz einer zerbrochenen Liebe. Golgatha als Schuttplatz ihres Glaubens. „Und wir dachten, er würde Israel erlösen!“ Die beiden Emmaus-Jünger klagen ihren Schmerz ihrem Wegbegleiter, dem Auferstandenen selbst. Sie können ihn noch nicht erkennen. Denn (wie ausnahmslos in allen Ostergeschichten) der Auferstandene muss sich selbst zu erkennen geben. Unser Glaube, unsere Sinne sind dafür nicht ausgestattet. „Das ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen.“ Keiner Jüngerin und keines Jüngers Sehnsucht hat die Auferstehung herbeigezwungen. Bei ihnen ist auch fürs erste mehr abgrundtiefes Erschrecken, mehr Verwirrung der Seelen als ungetrübte Freude. Ohne Jesu aufrichtendes „Friede sei mit euch“ kann die neue Wirklichkeit von ihnen nicht Besitz ergreifen.

Der Stein, den die Bauleute schon weggeworfen hatten, ist zum Eckstein geworden. Weil das so ist, muss nun auch gebaut werden. Weil das so ist, verliert der Auferstandene keine Zeit. In den Ostergeschichten herrscht viel Bewegung, fast Eile. Sie sollen nach Galiläa zurückgehen, lässt der Engel ausrichten, in die alte Heimat der Jesus-Gruppe, um dort den Auferstandenen zu treffen. Sie werden umgehend ausgesandt, um Schuld zu vergeben – und andere bei ihrer Schuld zu behaften. Schließlich sollen die Jünger nicht mehr und nicht weniger tun, als Jesu Botschaft von Gottes anbrechendem Reich in die ganze bekannte Welt zu tragen. Wenn der Grundstein gelegt ist, gibt es keinen Grund, mit dem Bau zu warten.

„Dies ist der Tag, den der Herr macht.“ Das menschliche Urteil über den Eckstein Jesus war allzu voreilig. Wider alle Erwartung und Erfahrung revidiert Gott selbst das Urteil. Die Ecksteine, die unser Gott haben will, um derentwillen er uns Jesus gegeben hat, sie sind doch gelegt worden. Die Ecksteine mit dem Zeichen Jesu, so wie alle Baumeister ihr Zeichen hatten:

  • Der Eckstein der Liebe, die sich niemand erkaufen muss, die unser Gott keinem seiner Menschenkinder verwehrt, dieser Eckstein liegt und trägt, ist belastbar ohne Bruchrisiko.
  • Der Eckstein der Vergebung ist gelegt, so wahr der Auferstandene noch am Kreuz einem Leidensgenossen die Tür zu Gott geöffnet hat, so wahr er auch für seine Henker bitten konnte.
  • Der Eckstein der Gerechtigkeit des Reiches Gottes liegt an seinem Platz, jener Gerechtigkeit die Jesus so wichtig nimmt, dass ihr unsere größte Sorge gelten soll.
  • Der Eckstein der Barmherzigkeit: Sie hat für jeden Menschen die rettende Tat und das rettende Wort übrig. Diese Barmherzigkeit übersteigt Recht und Vernunft.
  • Der Eckstein des Friedens, der höher ist als unsere Vernunft. Und doch fordert er unsere Vernunft heraus – der Friede, der nicht selten mehr Mut erfordert als der Krieg.
  • Der Eckstein des Glaubens: Er ist ein Geschenk und keine Leistung. Er ist oft eingesperrt im Gefängnis des Unglaubens. Aber er findet immer wieder den Weg ins Leben. Eins ums andere Mal hören wir Jesus sagen: „Geh deinen Weg, dein Glaube hat dir geholfen.“
  • Der Eckstein der Hoffnung, der uns gewiss macht, dass wir nicht tiefer fallen können als in Gottes Hand – ob wir uns stark fühlen oder schwächer werdend oder erkennen, dass wir am Ende unseres Weges stehen.

Alle diese Ecksteine sind gezeichnet mit dem Namen des Auferstandenen, so wie bei den alten Bauten die Namen der Baumeister bewahrt wurden. Ecksteine, auch die Ecksteine, die Jesus legt, unterscheiden sich sehr von anderem Baumaterial. In ihnen steckt viel mehr Steinmetzarbeit als in den meisten anderen Steinen. Sie müssen so lange bearbeitet werden, bis sie so gut wie nur möglich ihren Zweck erfüllen können: alle Last zu tragen, die ihnen aufgebürdet werden. Liebe, Vergebung, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit – Friede, Glaube, Hoffnung, zu jedem dieser Ecksteine des Christenlebens sagt und zeigt uns Jesus, wie wir mit ihnen umzugehen, wie wir sie zu pflegen haben. Sie sollen ja tragen.

Aber vor den Auftrag setzt unser Gott die Freude: „Dies ist der Tag, den der Herr macht; lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein!“ Alle, die sie später gewaltige Aufgaben vor sich haben, sie alle, denen auch Leid nicht erspart bleibt, in den Ostertagen ist die geteilte Freude der Höhepunkt. „Der Herr ist auferstanden. Er ist tatsächlich auferstanden!“ – „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete?“ Einer namens Petrus springt sogar mehr oder weniger nackt ins Wasser, um schwimmend möglichst schnell zu Jesus zu kommen. Mit Ostern und dem Christenleben ist es wohl nicht so völlig anders als mit unserer großen Liebe und der Partnerschaft, die daraus wachsen kann. Am Anfang steht das Glück darüber, was uns da zugestoßen ist. Und danach muss gebaut werden, gemeinsam. Deshalb: Frohe Ostern!

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