5. Sonntag nach Trinitatis, 12. Juli 2009
Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. Da stieg er in eines der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus.
Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische und ihre Netze begannen zu reißen. Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, sodass sie fast sanken.
Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen. Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.
(Lukas 5,1-11)
Gedränge um Jesus! In Deutschland muss schon der Papst kommen, damit es unter christlichem Vorzeichen richtig eng wird. Allenfalls kann uns das noch auf beim Kirchentag passieren – vielleicht wieder kommenden Mai beim zweiten Ökumenischen in München. Unsere Alltagserfahrungen und -sorgen sind ganz andere. Wir wollen heute morgen nicht zum tausendsten Mal darüber klagen. Zumal es sie ja gibt, reichlich sogar: christliche Kirchen, deren größtes Problem ihr rasantes Wachstum ist. Auch bei denen ist nicht alles Gold, was glänzt – vor allem nicht nach unseren Maßstäben und Erwartungen. Aber Gedränge um Jesus – das ist auch in unseren Tagen nicht selten.
Gedränge um Jesus, damals am Ufer des Sees Genezareth. Eine Menge Leute interessieren sich brennend für das, was er zu sagen hat – eine Gruppe Fischer offenbar nicht. Die sind müde, frustriert und können trotzdem nicht einfach Feierabend machen. Eiserne Regel: nach dem Fang ist vor dem Fang. Auch wenn sich´s nicht gelohnt hat: zuerst kommt die Arbeit am Netz, säubern, flicken – dann erst die Erholung.
Es sollte mich nicht wundern, wenn sie für die Dienstleistung, um die Jesus bittet, ein Trinkgeld erwartet haben. Schließlich wird ja jemand mit ins Boot gestiegen sein, um es in dem gewünschten Abstand vom Ufer zu halten. Jesus konnte schlecht gleichzeitig reden und steuern.
Was hat Jesus an diesem Morgen zu sagen? In dieser Stunde, als so viele an seinen Lippen hingen? Kein Wort erfahren wir davon. Eine Rede vom See ist nicht überliefert, ähnlich jenen Sätzen, die wir die Bergpredigt nennen. In dieser Stunde geht es nicht um die vielen. Es geht um die wenigen, die noch gar nicht wissen, dass ihr ganzes Leben sich ändern soll.
„Als er aufgehört hatte zu reden,“ fährt die Erzählung fort. Kein Wort mehr über die Vielen, ihre Reaktionen, über ihren Heimweg, was auch immer. Jetzt geht es nur noch um die Besatzung eines einzigen Fischerbootes; Leute, die überhaupt nicht gekommen waren, um diesen Jesus zu hören. Simon, den wir heute Petrus nennen, kommt nicht dazu, die Hand aufzuhalten für ein Trinkgeld. Stattdessen die Aufforderung, noch einmal rauszufahren – verbunden mit dem Versprechen eines guten Fangs.
In einer Predigt meiner Kindheit erzählte der Pastor zu dieser Szene einen Witz von „Tünnes und Schäl“, den Kölner Originalen. Die arbeiten auf dem Hauptbahnhof als Gepäckträger. Da kommt der Kölner Erzbischof von einer Dienstreise aus Rom zurück. Aber er hat nur einen Koffer dabei. Tünnes zu Schäl: „Also isch traje däm sein Koffer. Und wir deile hinnerhär.“ Schäl ist einverstanden. Später will er seinen Anteil. Tünnes druckst herum und macht ein Kreuzzeichen: „Kannsse dat deile?“ Der Berufsfischer Simon habe sich womöglich betrogen gefühlt um seinen Fährmannslohn, wollte der Prediger uns sagen. Ein Piaster in der Hand wäre ihm womöglich lieber gewesen als ein vages Versprechen – noch dazu eines, das sein ganzes Berufswissen auf den Kopf stellt. Seinen Kommentar behält er ja auch nicht für sich: „Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen…“
„…aber auf dein Wort will ich das Netz auswerfen.“ Ich tue es einfach, auch wenn meine Erfahrung dagegen steht. Was Simon Petrus tut, haben wir hoffentlich auch schon manches Mal getan in unserem Leben. Er schöpft den Spielraum der Seele aus, den Gott uns mit auf den Lebensweg gegeben hat. Neues wagen, nicht nur was Äußerlichkeiten betrifft. Vertrauen wagen, auf wenig mehr als eine Ahnung hin. Ob das jungen Menschen leichter fällt, die noch nicht wie wir Alten durch vielfache Erfahrungen zurechtgestutzt worden sind? Aber ich möchte den Impuls, der in diesem Satz steckt: „Auf dein Wort hin“ nicht ganz aus meinem Leben verlieren. Ich freue mich jedesmal, wenn er noch einmal aufklingt.
Nichts gegen Erweckungsprediger! Aber das umstürzende Erlebnis der drei Fischer und späteren Apostel spielt sich zunächst nicht in ihrem Kopf ab, sondern vor ihren Augen. Keine aufrüttelnden Worte. Sie spüren es zuerst in ihren vermutlich kräftigen Armen – weil sie mit dem übervollen Netz nicht zurechtkommen. Während sie Hand über Hand das Netz einholen und den Fang notgedrungen auf zwei Boote verteilen, bekommt ihr Leben eine neue Richtung.
Menschen können im alltäglichen Leben den Glauben verlieren – vielen ging es so im Krieg oder auch beeinflusst von den Lebensregeln des Sozialismus wie des Kapitalismus. Aber Gott kann auch einen Anfang setzen im Alltäglichen. Gerade hier, in unserer Heimat, wo Millionen diesem Jesus so ahnungslos gegenüberstehen, wie die Fischer am See nach ihrer Nachtschicht, sollten wir unsere Augen auf die fassungslosen Netzeinholer richten. So kann es auch Leuten in Magdeburg ergehen.
Gott greift Menschen heraus aus ihrem Alltag – für seine Zwecke. Wen? Wann? Wer weiß das schon vorher? Glücklich sind die Auserwählten darüber meist nicht. Jona rennt weg, so weit er kann. Simon Petrus wählt den anderen Weg. Er fleht Jesus an, zu gehen „Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch.“ Ein sündiger Mensch – soll nicht heißen, ein besonders böser Bube – ein Mensch eben, den die Begegnung mit der Macht Gottes völlig aus dem Gleichgewicht bringt. Ein Mensch, wie wir alle es sind.
Jesus geht nicht. Aber er befreit den Fischer von seiner Panik. „Fürchte dich nicht.“ Menschen die Angst vor Gott nehmen, so beginnen viele der Jesus-Begegnungen, von denen wir wissen. Jesus macht Gott nicht zum Kumpel. Aber er nimmt die Angst vor dem unberechenbar Heiligen. Gott hat Frieden im Sinn, und Liebe, immer. Er freut sich mehr über einen mit Schuld Beladenen, der seinem Leben eine neue Richtung gibt, als über 99 Gerechte. Das Zeichen des Fischzuges soll deshalb nicht Angst machen, sondern Vertrauen wecken.
Dies Vertrauen ist aber auch nötig, denn „Von nun an wirst du Menschen fangen“. Ohne jede andere Ausbildung, als das Fischerhandwerk. Berufung ersetzt Ausbildung. Aber Berufung heißt nicht weniger, als mit Jesus mitzugehen, Ziel einstweilen unbekannt. Am Ufer werden Boote liegen bleiben, auf unabsehbare Zeit. Der Evangelist Johannes erzählt zwar von einer Rückkehr der Jünger Jesu in ihren Brotberuf. Aber das ist nach dem Tod Jesu. Da ereignet sich am See praktisch eine Kopie dieser Geschichte. Darauf gründet sich dann der Glaube der Jünger, dass Jesus wirklich lebt.
„Menschenfischer“ nennt Jesus die Berufung der drei Fischer, die er mehr oder weniger entführt. Als ich jung war, hatte dieses Bildwort für mich etwas Faszinierendes. Heute meine ich zu wissen, dass es entscheidend darauf ankommt, wer diese Berufung ausspricht und mit welcher Absicht. Die Welt wimmelt ja von Menschenfischern. Jeder Schmeichler will Menschen fischen, in egoistischer Absicht; die Werbung gibt Milliarden für Menschenfischerei aus, oft sogar zum Schaden derer, die in den Netzen landen. Weltanschauungen und Gewaltherrscher tun es. In den kommenden Monaten werden unsere politischen Parteien fischen und sich besonders geschickt dabei anzustellen versuchen.
Einige der finstersten Gestalten der Geschichte gehörten zur Elite der Menschenfischer. Und ich lebe lange genug in unserer Kirche, um der Wahrheit die Ehre zu geben: ich kenne Methoden seelischer Manipulation, des Spiels mit Ängsten und Unsicherheit, die mögen zwar Menschen, vornehmlich junge, an die christliche Gemeinde bzw. an irgendwelche Anführer-Typen binden, aber mit Liebe und Freiheit hat das wenig zu tun. Und die sind bei Jesus das Maß der Dinge.
Jesu Menschenfischerinnen und Menschenfischer – alle, die in seinem Namen den Mund aufmachen, sie sind unterscheidbar und identifizierbar. Jesus sagt dazu: „Daran wird die Welt erkennen, dass ihr meine Jüngerinnen und Jünger, dass ihr Liebe untereinander habt.“ Liebe, so konkret, so beschreibbar, wie Fische im Netz des Fischers. Ohne Liebe mögen eure Werbemethoden clever sein, in Zahlen gemessen sogar erfolgreich, aber das ist dann nichts als christlicher Etikettenschwindel.
Die Liebe bleibt die Grundlage der Menschenfischerei. Die Liebe ist kein Einheitsbrei. Für den einen Menschen ist Liebe Vergebung, für den anderen Mut zusprechen, für den Dritten wird Gerechtigkeit zur Verkörperung von Liebe, für den nächsten die zur Versöhnung ausgestreckte Hand, geteiltes Brot, geteilte Zeit. Die Liste ist so lang wie das Leben. Menschenfischer aus Liebe, aus erlebter Liebe, die zum Antrieb des ganzen Lebens werden kann, wenn Jesus dafür sorgt.