17. Sonntag nach Trinitatis, 30. September 2012
Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.
(Matthäus 15, 21-28)
Was war verletzender – das Verhalten Jesu oder die Tat die unseres koptischen Glaubensbruders Nakoula Basseley Nakoula, derzeit in den USA in U-Haft? Nach allem, was die Welt weiß, produzierte er einen Film, der den Propheten der Muslime in den Dreck ziehen und seine Anhänger in die Raserei treiben sollte. Ein mehr als peinlicher Glaubensbruder! Aber wie sagte mein früherer Superintendent, wenn´s unter unseren Leuten mal ganz dicke kam: „Das ist der Unterschied: Freunde sucht man sich aus. Brüder hat man.“
Aber ist es am Ende nicht verletzender, wie Jesus von Nazareth sich verhält in der Begegnung, die das Sonntagsevangelium beschreibt? Verletzender, nicht blindwütiger wie dieser Fanatiker. Jesu Begegnung – zunächst ist es eher ein Zusammenstoß – mit der Frau aus der Glaubensgemeinschaft der Kanaanäer hätte natürlich keine Welle des Todes hinter sich hergezogen, so wie es der Film-Fanatiker und mögliche Hintermänner wollten. Aber wäre es bei dem geblieben, was Jesu Worte anzurichten im Begriff waren, dann wäre ein Mensch nicht durch ein anonymes Medium gekränkt, sondern von Angesicht zu Angesicht in seiner Würde zerrissen zurückgelassen worden.
Nein, solange wir uns an die Regeln und Gesetzmäßigkeiten halten, die im Miteinander des wirklichen Lebens gelten, ist das, was diese Frau erleben muss, wohl bitterer. Sie wird Mut gebraucht haben, den jüdischen Rabbi Jesus von Nazareth um Hilfe zu bitten. Der Graben zwischen Kanaanäern und Juden war tief. Tiefer als der zwischen Christen, Muslimen und Juden heute. Denn Kanaanäer halten fest an der vorisraelitischen Götterwelt Palästinas, ohne dass wir Genaueres wüssten. Sie sind „Heiden“, nicht abtrünnige Verwandte wie z.B. die Samaritaner. Heiden, mit einer frommen Feindseligkeit zur Kenntnis genommen, wie sie mir fremd geworden ist. Einfach, weil die meisten netten und eindrucksvollen Menschen, die ich kennenlerne, meinen Glauben nicht teilen. Soviel „Feinde“ könnte ich mir seelisch gar nicht leisten, wie mich Nichtchristen umgeben, gelassene und auch militante. Die Anrede, die die hilfesuchende Kanaanäerin wählt, stammt nicht aus dem Knigge. „Herr“ heißt nicht etwas altertümlich: „Mein Herr“. In Israels Glaubenssprache ist das Wort ganz nah beim unaussprechlichen Gottesnamen. Ich übersetze es mal mit „Du Gottähnlicher“. Mehr geht kaum. Und das aus dem Mund einer, die draußen steht!
Lassen wir das Mutmaßen über Motive. Ein Motiv ist sonnenklar: die Liebe der Mutter zur nervenkranken Tochter. Die Antwort: Schweigen. Wir wissen, dass man Menschen totschweigen kann, seelisch – und dann sogar körperlich. Und was die Jünger dann machen, nennen wir heutzutage Mobbing. Schick sie weg, denn sie schreit uns hinterher, uns, der ganzen Jesus-Gruppe. Auf das Schweigen folgt eine grausam-korrekte Erklärung: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Prüfe deine Zuständigkeit und verneine sie. Eigentlich ein ironisch gefärbter Satz. Aber er leuchtet uns im Zeitalter des religiösen do it yourself irgendwie ein. Jeder hat mit sich erst mal genug zu tun. Und ein Schelm, wer Aktuelles zitiert: Wer keinen Kirchenbeitrag zahlt, darf bei uns auch keine Glaubenswunder erwarten.
Jesus, reingefallen auf das Mobbing seiner Leute. Die Initiative der Liebe scheint er verloren zu haben. „Du Gottähnlicher, hilf mir!“ Die heidnische Mutter auf den Knien provoziert ihn. „Es ist nicht in Ordnung, dass man den Kindern das Brot wegnimmt und wirft es vor die Hunde.“ Hunde sind in der rabbinischen Auslegung nun mal Objekte frommen Ekels, ganz im Gegensatz zu dem Trallala, das wir hier um Hunde machen. Was eine fühlt, die den Hunden gleichgesetzt wird, versteht man leichter, wenn man sich die Anrede „Drecksau“ auf der Zunge zergehen lässt: gewollte Geringschätzung und Verachtung, ob das dem armen Tier nun gerecht wird oder nicht.
Jesus hat sein Pulver verschossen. Er kann die Begegnung im Sinne der Bergpredigt nicht mehr retten. Das kann nur diese Mutter. Und sie tut es: „Du hast recht, du Gottähnlicher, und doch fressen die Hunde von den Abfällen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“ Das ist wohl mehr, als auch Jesus in dieser Situation für möglich halten konnte. Die Frau lässt dem Volk Gottes, dem Volk der Bibel seine grausamen Regeln, seine Dogmatik, seine Sicht von drinnen und draußen, von Dazugehören und Außenseitern. Aber ihr Herz vertraut auf eine Gnadenordnung des Lebens, eine Gnadenordnung Gottes, die noch größer ist – groß genug, um ihre Not zu heilen. Soll ich sagen, sie erst macht Jesus in diesem Moment zum Heiland? Zum Träger einer Friedensbotschaft, die wirklich allen Menschen geschenkt ist? „Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst!“ Die Bekehrung Jesu, seine Befreiung zum Verkünder des entgrenzten Gottesreiches, sein stummes Staunen darüber, was diese Frau ihm offenbart: das macht diese Geschichte (zusammen mit einigen vergleichbaren Begegnungen) auch für uns zu einem Schlüsselerlebnis des Glaubens.
Wir leben in derselben Gefahr, der Jesus um ein Haar erlegen wäre, die überaus wichtigen Gesetze der Glaubensgemeinschaft zu wenden gegen die, die nicht dazu gehören. „Du nicht! Ihr nicht!“ Wenn es um Lebensrecht und Menschenwürde geht, dann sind das unerträgliche Urteile. Darum steht diese im Sinn der Glaubenslehre ungläubige Frau am Anfang von Allem. Hätte ihre Liebe zu ihrem Kind nicht die Engstelle im Herzen Jesu überwunden, dann wären seine Worte „Verkündet die Gute Nachricht allen Menschen“ eine Farce. So sind sie ein Auftrag.