Invocavit, 10. Februar 2008
Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat zu ihm und sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5.Mose 8,3): »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben (Psalm 91,11-12): »Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben (5.Mose 6,16): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben (5.Mose 6,13): »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm.
(Matthäus 4,1-11)
Dieses Sonntagsevangelium gibt der Zeit bis Ostern in den katholischen Gemeinden den Namen: Fastenzeit. In meiner Kindheit in einem katholischen Dorf im Münsterland war die Fastenzeit ein einprägsames Erlebnis. Endlose Debatten, was die katholischen Dörfler essen und tun durften, und was nicht: Bonbons nein, Lageräpfel vom letzten Herbst ja. Fleisch nein, Fisch ja. Rauchen nein, einen Korn, wenn er für die Gesundheit von Nöten war, ja; Tanzvergnügen nein, Kirchenchor ja. Aber wir evangelischen Flüchtlingskinder waren nur Zuschauer. Die Kinder des einziges Sozis im Dorf – das war der Schuhmacher – und wir hatten mit dieser angeblichen „Werkgerechtigkeit“ nichts zu tun.
Heute ist Fasten „in“, in der Passionszeit auch unter evangelischen Christenmenschen. Die Initiative „Sieben Wochen ohne“ gehört inzwischen zu den Angeboten, mit denen unsere Kirche bei vielen Frommen oder auch bei gar nicht so Frommen punkten kann. Jedes Jahr ein anderer Anstoß, wie wir dadurch gewinnen, dass wir sieben Wochen lang eingeschliffene Dinge bewusst anders machen oder einfach sein lassen – ähnlich gründlich vorbereitet wie z. B. der Weltgebetstag. Dies Jahr heißt das Motto „Sieben Wochen ohne Geiz“.
Die Diffamierung der Fastenpraxis in der katholischen Volksfrömmigkeit ist passé. Nicht zuletzt: der Islam flößt uns auch deshalb einigen Respekt ein, weil es ihm gelingt, die Mehrzahl seiner Gläubigen zur Beachtung des jährlichen Fastenmonats Ramadan zu bewegen (von morgens bis abends).
Fasten ist normal. Für Jesus und seine Zeitgenossen, für viele Glaubende unserer Zeit. Nicht das Fasten führt Jesus in die Versuchung; viel eher ist es die Wüste. Aus der Sicht derer, die nicht ständig in ihr leben, der absolut lebensfeindliche Raum. Da ist der leibhaftige Versucher zu Hause, der Satan. Dort kannst du ihm nicht davonlaufen. Dort kannst du ihm nur widerstehen. Und die lange Fastenzeit hilft Jesus dabei. Denn Fasten intensiviert das Denken, das Fühlen, das sich Entscheiden. Jeder Mensch mit Fastenerfahrungen kann das bestätigen.
Dass der Scheitan, wie die heute meist arabisch sprechenden Wüstenbewohner ihn nennen, beim Hunger des fastenden Jesus ansetzt, überrascht mich. Denn wenn auf etwas Verlass ist beim Fasten, dann auf das Verschwinden des Hungergefühls. Aber vielleicht erinnern die 40 Tage ja einfach daran, dass dem Fasten auch natürliche gesundheitliche Grenzen gesetzt sind.
Deshalb: Sprich, dass diese Steine Brot werden. Jesus, zieh doch einfach die göttliche goldene Mastercard. Du hast sie doch. Also nutze sie.
Wer wie ich das ganze kirchliche Arbeitsleben lang über den Hunger in der Welt, seine Ursachen und seine Überwindung reden musste, den erwischt Jesus mit seiner Antwort sozusagen auf dem falschen Fuß. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein? Kommt nicht wirklich erst das Fressen – und dann die Moral?
Doch, es wäre dumm und willkürlich, Jesu Wort gegen das Menschenrecht auf Nahrung zu kehren. Er streitet mit dem Versucher ja nicht über die Unentbehrlichkeit des Brotes, sondern wenn schon über Brot, dann darüber, wie die Menschheit es in ausreichender Menge und Verteilung gewinnt. Die ausreichende Verfügbarkeit des täglichen Brotes ist keine Ergebnis von Zauberformeln, weder magischen noch religiösen, weder politischen noch wissenschaftlichen. Brot ist ausreichend da, wenn wir Menschen uns in dieser Sache an das Wort unseres Gottes halten: wenn wir teilen; wenn wir unser Maß erkennen und beachten; wenn wir Barmherzigkeit, Liebe und Gerechtigkeit unser privates und gemeinschaftliches Leben durchdringen lassen. Es ist Gottes Wort und nichts anderes, das vor Verschwendung, vor Ausbeutung, vor Gewinnsucht warnt, den Faktoren, die das Brot auf Erden zur Mangelware machen.
Wem das tägliche Brot mit allem, was laut Martin Luther dazu gehört, am Herzen liegt, soll zusammen mit Jesus zuerst auf die Stimme dessen hören, der seinerseits genug für alle davon gibt. Gott gibt uns keine Zauberformeln zur Bewältigung des Lebens an die Hand. Er leitet uns mit seinem Gesetz des Lebens in den Entscheidungen des privaten und öffentlichen Alltags.
So ist es auch zu verstehen, wenn wir beten „Der Herr ist mein Hirte.“ Nicht Showtime für den Superstar beim unbeschadeten Sprung vom Kirchturm. Das bringt Quote, jede Menge – aber es beleidigt den Gott, der seine Treue im Alltag des Lebens bewähren will. So wie der Hirte, der seine Kreaturen durch das gefährdete Leben leitet, zu dem es keine Alternative gibt.
Das Leben, darüber sollten wir nachdenken, ist eine Mischung aus selbst übernommener und gelebter Verantwortung und dabei dem Vertrauen, dass nichts uns trennen kann von der Liebe Gottes.
Die Einsamkeit der Wüste weckt Visionen. Auch die von dem Berg, der den Blick auf alle menschlichen Machtgebilde freigibt, „alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit“. Wir wissen, dass damit den USA, Russland und China zum Trotz nicht nur politische Mächte gemeint sind. Wir ahnen die überwältigende Machtfülle wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Reiche. Über die Herrlichkeit einer erfolgreicher Jahresbilanz kommen sogar Nachrichtensendungen ins Schwärmen. Nicht anders kann uns die Herrlichkeit der einen oder anderen wissenschaftlichen Heilsbotschaft packen: kein Energiemangel mehr, kein Hunger, keine Angst machenden Krankheiten – unter einer Bedingung: „wenn du niederfällst und mich anbetest.“
Wer müsste uns noch daran erinnern, was der Preis dafür sein kann, Volksgenosse eines germanischen Weltreiches sein zu dürfen – oder irgend einer anderen totalitären Machtzusammenballung. Hinter den Kulissen zieht regelmäßig das Böse – wir sagen der Einfachheit halber der Böse die Fäden.
Alles hat seinen Preis, sagen wir. Und manchen Preis zahlen wir auch heute, weil wir das Leben so haben wollen, wie es ist. Und sei es nur mit Pracht und Herrlichkeit auf kleiner Flamme.
Jesus, in der Klarheit und Entschiedenheit, die durch das Fasten erleichtert ist, bezieht Position: es gibt Preise, die sind zu hoch. Wer an der Weltherrschaft teilhaben will, und sei es nur als ganz kleiner Nutznießer, der hat seine Seele schon verkauft. „Und was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“
Darum ist Gottes Anspruch auf die Richtlinienkompetenz in unserem Leben keine Tyrannei, keine Entmündigung, sondern Auftrag und Bevollmächtigung. Dem Gott zu dienen, der zu uns steht wie das Urbild von Mutter und Vater, macht frei von Untertanengeist gegenüber allen Reichen der Welt.
Und Gott selber? Er mag keine Untertanen. Die klarstellenden Stichworte der Bibel dazu heißen Bund, Kinder, Erben, Freie, Tischgemeinschaft statt Reichsparteitag mit Marschkolonnen.
Mit dem Satan, angesichts der Versuchungen, die wir in diesem Personenbild zusammenfassen, gibt es keine Verhandlungslösungen, sondern nur die eine Entscheidung: Er oder du, mein guter Gott. Das mag uns nicht gefallen, uns sogar erschrecken. Aber daran lässt die Titelgeschichte der Passionszeit keinen Zweifel.
Und sie schließt mit einem himmlischen Hoffnungsbild; menschlich, wie alle Himmelsbilder. Der Satan räumt vorübergehend das Feld. Und Gottes Vertraute, die Engel sind Jesus zu Diensten. Nicht weil er erfolgreich auf einen blutigen Kreuzzug oder in einen Heiligen Krieg gezogen wäre, sondern weil er die großen Geschenke Gottes an uns, Barmherzigkeit, Liebe und Gerechtigkeit in der Versuchung bewahrt hat.