Karfreitag, 21. April 2011
Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten, das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“
(Matthäus 27, 54)
„Da verließen ihn alle Jünger und flohen“. Diese Mitteilung am Ende der nächtlichen Szene der Verhaftung Jesu – sie kennzeichnet den Beginn der furchtbaren Einsamkeit auf dem Kreuzesweg; eine öffentlich zur Schau gestellte Einsamkeit, bis heute immer dann, wenn sich Herrschende der öffentlichen Hinrichtung als Abschreckungsmittel bedienen.
In allen Herzen soll die Angst übermächtig werden, man könne mit dem Verurteilten irgendwie in einen Topf geworfen werden. So ist die berühmte „Verleugnung des Petrus“, wenige Stunden nach Jesu Verhaftung, weniger verwerflich, als der Kindergottesdienst mir das eingeflößt hat. Man denke nur an unsere jüngste Geschichte: die wenigen Überlebenden der Verschwörung gegen Hitler konnten zu Zeitzeugen werden, weil sie geschickt oder glücklich geleugnet haben und weil die Verurteilten sie nicht verrieten.
Die öffentliche Einsamkeit des Gekreuzigten, sie ist gewollt, sie ist ein Teil der Grausamkeit, die die Todesstrafe kennzeichnet. Die Bilder, die Worte während der Stunden auf dem Hinrichtungsplatz Golgatha, die sich vielen von uns schon in der Kindheit eingeprägt haben: sie verteilen sich auf vier Schilderungen, die nach der Logik eines Kriminalkommissars ganz und gar unvereinbar sind. Entweder ist es so gewesen oder so, entweder hat er das gesagt oder das. Die berühmten „Sieben Worte am Kreuz“, die wir im Konfirmandenunterricht noch auswendig lernen mussten, sie stehen in keinem der Evangelien alle zusammen.
Das Matthäus-Evangelium, aus dem wir heute gelesen haben, überliefert nur einen einzigen Satz Jesu und später einen wortlosen Todesschrei. Aber dafür eine Menge zynischer Kommentare und Beschimpfungen von Passanten und frommen Autoritäten. Die Leute reagieren, wie sie reagieren sollen, nach dem Motto: „Das hast du nun davon.“ Und die Gottesgelehrten verlangen von dem Sterbenden einen Gottesbeweis: „Steig doch herab vom Kreuz.“ Dann bist du unser Mann. Da verlaufen öffentliche Hinrichtungen in China oder im Iran disziplinierter.
Aus Jesu Mund kommt nur eine Erinnerung an die Psalmen, die er als Kind gelernt hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Warum du auch? Und weil Jesus in der hebräischen Gebetssprache schreit, die im Alltag ungebräuchlich war, kommt es diesem Missverständnis „Eli“ zu deutsch „mein Gott“ klingt in den Ohren der Sensationslustigen wie der Name des prominenten Propheten Elia: „Lasst uns sehen, ob Elia erscheint und ihm hilft.“
Ein verzweifelter Gebetsvers und ein wortloser Todesschrei, kein „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, kein Trost für einen der mit ihm Verurteilten: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“. Erst recht kein „Es ist vollbracht“. Nur die Leute überbieten sich in Schmähungen.
Und am Ende dieser fast wortlosen letzten Stunden des Mannes, dessen Reden die Herzen bewegt haben, soll der Kommandant des Exekutionskommandos dies gesagt haben:
Als aber der Hauptmann, und die, die Jesus mit ihm bewachten, das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: „Wahrhaftig, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“
Der Hauptmann bzw. Centurio nach römischem Sprachgebrauch, er und keiner der Weggefährten Jesu, noch nicht einmal eine Frauen, die so treu zu ihm standen, wird der erste, der erkennt und bekennt. Mir bedeutet das viel, in unserer Zeit, in der religiöses Bekenntnis öfter dazu benutzt wird, um Menschen zu trennen, als zu zusammenzuführen.
Ein Centurio der Garnison Jerusalem, er konnte vieles sein, was Herkommen und religiöse Traditionen anging. Da war das Römische Reich nicht kleinlich. Aber eines durfte er nicht sein: ein frommer Jude. Das hätte jeder Logik von Machtkontrolle widersprochen. Nein, zur Gottesgemeinde Israels gehörte er nicht; er nicht und auch nicht der berühmte Hauptmann bzw. Centurio von Kapernaum, den Jesus uns als zeitloses Beispiel für Vertrauen in Gottes Zusagen vor Augen gestellt hat.
Ob Jerusalem eine gute Karriere-Station für römische Offiziere war, kann ich nicht beurteilen. Ein prominenter jedenfalls, Quintilius Varus, später im Teutoburger Wald oder sonstwo in Westdeutschland umgekommen, er hatte ebenfalls Jerusalem in seiner Personalakte. Ansonsten gilt: ein brauchbarer Besatzungsoffizier darf menschlich sein, aber er muss Distanz halten, um zu funktionieren. Wieviel er auch mitbekommen haben mag von dem Streit um den Delinquenten Jesus von Nazareth, er lässt das Schild mit dem todeswürdigen Verbrechen ordnungsgemäß anbringen: „Das ist Jesus, der König der Juden“. Er führt einen Befehl aus, der auch heute noch zum Ritual öffentlicher Hinrichtungen gehört. Er hindert seine Gefreiten auch nicht daran, sich zu nehmen, was ihnen nach Exekutionsordnung zusteht. Die letzte Habe des Menschen, der sie nun nicht mehr braucht. Andere Befehlshaber verteilen Schnaps und Zigaretten. Was ist abstoßender?
Damit haben wir noch einmal das meiste erwähnt, was Matthäus vom Geschehen auf Golgatha überliefert. Viel mehr war nicht. Ob es in der Mittagszeit des Karfreitag auch noch einen Erdstoß oder einen verdüsterten Himmel gebraucht hat, um dem Kommandanten den Mund zu öffnen? Ich weiß aber, dass sich Erschütterungen und Finsternisse vor allem und viel häufiger in unseren Herzen abspielen.
Der, was Jesus betrifft, fast wortlose Tod, führt jedenfalls zu dieser Erkenntnis: „Wirklich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Für mich selbst will ich das festhalten: Jesus erreicht Menschenherzen auch ohne die Worte seiner Kirche; ohne theologisch korrekt begründete und ausgeführte Mission. Jesus hat sich nie in diesem Sinne zähmen oder kontrollieren lassen. Die Jüngerinnen und Jünger am Ostermorgen werden nur noch Teilhaber an einer Erkenntnis, die ein „Ungläubiger“ in Worte gefasst hat, die eigentlich gar nicht über seine Lippen hätten kommen dürfen.
Noch am Karfreitag überschreitet der Heilige Geist mit dem Ausruf des Centurio die Grenze zwischen drinnen und draußen – genauer gesagt, er überschreitet sie von neuem. Denn Jesus auf seinen Wegen durch Israel hat sich von dieser Grenze niemals aufhalten lassen, wenn es darauf ankam. Der Centurio von Kapernaum ist da, wie wir wissen, kein Einzelfall.
Der Centurio vom Exekutionskommando war kein Einzelfall – und er ist kein Einzelfall geblieben. Wort und Werk Jesu, Jesus selbst, hat Zugang zu Geist und Herz von Menschen, die das nicht wollten und doch bekannt haben – ohne Zutun unseres Missionseifers. Aber dieser Eifer ist uns aus vielerlei Gründen ja sowieso abhanden gekommen.
Doch wenn der Centurio ungewollt zu den Ahnen des Glaubens gehört, wozu braucht es dann noch die Frauen, Petrus, die Emmaus-Jünger und all die anderen? Weil der unbekannte Centurio, so wie die untergetauchten Jünger, nur in die Vergangenheit schauen konnte: „Dieser ist Gottes Sohn – gewesen.“ „Und wir hofften, er würde Israel erlösen“. Die Jünger auf dem Weg nach Emmaus haben mit ihren gestorbenen Hoffnungen dieselbe Blickrichtung. Jeder, der Jesus kannte und lieb hatte, kann nur so sprechen: Vergangenheit!
Die Vergangenheit, sie hat sich erstickend auch auf die Herzen so vieler gelegt, die Glauben als Kraftquelle des Lebens verloren haben – auch wenn sie an der Kirche festhalten. Der von Verlustgefühlen durchtränkte Blick in die Glaubensvergangenheit – er ist mir selber nicht fremd.
Ob Centurio oder Petrus oder ich selbst: wir alle können im Rückblick erkennen, wie wichtig Liebe und Vergebung, Gottes Treue und Gerechtigkeit für unser Leben sind.
Aber im eigenen Leben darauf setzen? Dazu bedarf es des Osterglaubens und der Osterfreude, die sich kein Mensch selber vornehmen kann. Aber Gott hat gewollt und geschenkt, dass das Wort des Centurio nicht das letzte geblieben ist.