Erlassjahr

10. Sonntag nach Trinitatis, 15. August 2004

Und du sollst zählen sieben Sabbatjahre, siebenmal sieben Jahre, dass die Zeit der sieben Sabbatjahre neunundvierzig Jahre mache. Da sollst du die Posaune blasen lassen durch euer ganzes Land am zehnten Tage des siebenten Monats, am Versöhnungstag. Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen im Lande für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein. Da soll ein jeder bei euch wieder zu seiner Habe und zu seiner Sippe kommen.

3. Mose 25 in Auswahl

Magdeburg – die Hauptstadt der Protestbewegung. Die Medien sehen es so. Und unser Bischof wird dazu gebeten, wenn im ZDF Promis über Hartz IV und die störrischen Ossis diskutieren. Was uns heute der Arbeitsplatz ist, das war im alten Israel in erster Linie das Stück Land, Grundlage für Viehhaltung, Ackerbau, Weinberge. Die Schriften des AT sind voll von Notizen rund um Landbesitz und Landrechte. Viele Seiten füllen die Protokolle über die Aufteilung des Gelobten Landes unter die Stämme, die Clans, die Großfamilien. Denn das war das Wichtigste: zu wissen, dies Stück Land gehört meiner Familie. Dies Stück Land ist unsere Sicherheit über die Generationen. Wir haben es schwarz auf weiß. Deshalb können wir Vertrauen in die Zukunft haben.

Soweit der Grundgedanke, die Theorie des gottgegebenen Rechtes. Die wirtschaft­liche und soziale Wirklichkeit sah anders aus. Manche Familien wirtschafteten erfolgreicher als andere. Andere waren die Verlierer. Land wechselte den Besitzer. Ein Teil der Fami­lien stand eines Tages mit leeren Händen da, verarmte – das Ende des Abstiegs kam in Gestalt von Schuldknechtschaft und nacktem Hunger. Israel bekam, hatte wohl immer in seiner Geschichte ein soziales Problem.

Die Vorschriften über das Erlassjahr sind der Versuch, der Verelendung eines Teils des Volkes im Namen Gottes gegenzusteuern – mit einer Radikalkur. Alle 50 Jahre, eben in den Erlassjahren, sollen die ursprünglichen gerechten Besitzverhältnisse wieder hergestellt werden. Egal aus welchem Grund eine Familie im Verlauf der letzten 50 Jahre ihr Land verloren hatte – Pech, Leichtsinn, Betrug, Schicksalsschläge aller Art – im Erlassjahr soll sie es zurückbekommen, ohne Entschädigung der zwischenzeitlichen Besitzer. Der konnte sich ja vorher ausrechnen, für wie lange oder kurze Zeit nur ihm das zugekaufte Land gehören würde. Entsprechende Preistabel­len waren auf dem israelitischen Grundstücksmarkt vorgesehen.

Diese im Namen Gottes verkündeten Sozialgesetze klingen so unwahrscheinlich, so sehr allen Erfahrungen mit menschlichem Gewinnstreben und der Macht des Reich­tums widersprechend, dass man sich kaum vorstellen kann, wie dies Gesetz über die Jahrhun­derte funktioniert haben soll. Seiner Proklamation im 3. Mosebuch entspricht jedenfalls keine ausführliche Berichterstattung über die Anwendung.

Aber die Absicht ist eindeutig. Und an die sollten wir uns halten. Denn wenn wir als Christenmenschen etwas zu den leidenschaftlichen Auseinandersetzungen dieser Tage sagen wollen, können wir ja nicht einfach die eine oder andere Position nach­plappern. Wir sind den Menschen, wir sind der Gesellschaft schon den Blick in die Bibel schuldig.

Die Grundlage von allem ist diese Überzeugung: das Land, die Grundlage jeder wirtschaftlichen Existenz ist Leihgabe Gottes. Gott, der Leihgeber behält ein letztes Verfügungsrecht. Und das nimmt er auch in Anspruch – eben, um einmal pro Menschenalter die Grundlagen wirtschaftlicher Gerechtigkeit wieder herzustellen.

Es ist nicht wirklich schwer, diese einfache Glaubensüberzeugung in unsere Zeit zu übertragen. Zugegeben, nur für eine Minderheit von uns ist Landbesitz noch die Lebensgrundlage. Für uns zählen Beschäftigung, Einkommen, die Verlässlichkeit von Rentenkassen und Sozialsystemen. Aber letzten Endes leben wir damals wie heute von dem, was Gottes Schöpfung bereithält, unabhängig davon, wie wir an unseren lebensnotwendigen Anteil herankommen. Verfügung über Land war die wichtigste Form der Einkommens­sicherung in Israel. Aber es gab auch schon den begehrten spezialisierten Handwerker, den Hofbeamten, den Künstler, den Berufssoldaten, den Händler. Sie gingen mehr mit Geld um als mit Pflug und Hacke. Sie alle waren wie wir darauf angewiesen, dass Gottes Gerechtigkeit nicht nur für glücklose ehemalige Landbe­sitzer galt. Alle konnten sich darauf berufen, dass ihnen als Söhnen und Töchtern Israels ihr Anteil zustand – ihr Anteil an den Schätzen des Landes, in dem Milch und Honig fließen. „Aller Augen warten auf dich, dass du ihnen Speise gibst zur rechten Zeit…“

Alle Güter der Schöpfung, alle Lebens-Mittel stehen in der Verfügungsgewalt Gottes. Und das Wesen dieses Gottes ist geprägt durch seinen Gerechtigkeitssinn. So sehr, dass Jesus die „Gerechtigkeit des Reiches Gottes“ in den Mittelpunkt seiner Botschaft stellt. Jesus hat den Eigentumsvorbehalt des Schöpfers zugunsten der Armen und Schwachen nicht zurückgenommen. Er hat ihn verstärkt. Er hat ihn in radikale Worte gefasst, die rücksichtslosen Reichen innerhalb und außerhalb der Kirche seitdem in den Ohren gellen.

Was von dieser unglaublichen Bestimmung über das Erlassjahr können wir also mit auf den Domplatz nehmen, falls es uns morgen dahin ziehen sollte? Natürlich keine Patentlösungen für sozialpolitische Einzelfragen. Aber die Gewissheit, dass der Gott Jesu sich auf Dauer nicht mit einem Gewinner-Verlierer-Spiel abfindet. Volk Gottes, das sind seit Jesus ja alle Geschöpfe mit menschlichem Antlitz. Einen Teil von ihnen abzuschreiben, im Namen wirtschaftlicher Vernunft und zum Vorteil der anderen – das stößt auf den Einspruch dessen, der allen das Leben gibt.

Gottes Einspruch gilt ganz bestimmt der Gerechtigkeitskatastrophe, die die Mensch­heitsfamilie als ganze betrifft. Und da sitzen die meisten von uns Deutschen nach wie vor im gleichen Boot. Aber auch innerhalb eines Volkes gilt der biblische Lehrsatz „Gerechtigkeit erhöht ein Volk“ – und Ungerechtigkeit führt auf Dauer ins Verderben.

Soziale Not, niederdrückende Armut, Benachteiligung auf unabsehbare Zeit unter­liegen für uns Christenmenschen auch in Deutschland dem Einspruch der Erlassjahr-Tradition. Gott will, dass untragbare Lasten eines berechenbaren Tages von den Schultern genom­men werden. Nicht alle Lasten des Lebens, aber die untragbaren, die, die Menschenwürde zerstören und die Luft zum Leben abdrücken. Und Gott will, dass diese Reformen in seinem Namen ein Datum bekommen. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen – aber auch nicht an irgend einem Sankt Nimmerleinstag. Dafür steht die runde Zahl: alle 50 Jahre!

Der Widerspruch ist unübersehbar: zum Schutz der Benachteiligten erhebt Gott einen Eigentumsvorbehalt für alle Güter der Schöpfung. Und unsere Verfassung stellt das Recht auf Eigentum an einen der obersten Plätze. Es liegt auf der Hand: wer viel besitzt, hat öfter Anlass, das eigene Recht auf Eigentum einzufordern als der Habenichts. Andererseits haben auch die vielzitierten Kindersparbücher mit Eigentum zu tun. Ein starkes, für wahlabhängige Politiker gefährliches Symbol. Und deshalb kein Wunder, dass die Sparbücher jetzt wieder sicher in der Schublade liegen.

Nein, beim Erlassjahr-Vorbehalt des gerechten Gottes geht es um andere Kaliber. Ob willkommen oder nicht. Menschen, die die Bibel ernst nehmen, sind dem Land diese Botschaft schuldig – spätestens dann, wenn die Gerechtigkeit einem Volk grundsätz­lich verloren zu gehen droht: Grundbücher, Aktienpakete, Konten, Bilanzen, Konzern­strategien, all das kann nicht rechtlich abgesicherte Privatsache der Reichen und Mächtigen eines Volkes sein – dann nicht mehr, wenn der Umgang mit Eigentum und Macht mehr Leben zerstört als erhält.

Ob eine solche Situation eingetreten ist, ob sie auf uns zukommt, darüber urteilen wir besser nicht leichtfertig, je nach Stimmung. Aber es gilt immer zuerst auf die zu hören, die die Ungerechtigkeit einer Wirtschaftsordnung am eigenen Leib spüren – und an den geminderten Zukunftschancen ihrer Kinder. Gemäß meinem Lieblings­sprichwort: „Die Wahrheit über die Katze erfährt man von den Mäusen.“ Und es gab und gibt die Entwicklungen, wo das Recht auf Eigentum nach Gottes Urteil zum Unrecht wird.

Damit Israel, ohne daran zu scheitern, von solchen Irrwegen umkehren konnte, besaß es das grandiose Konzept des grundlegenden sozialen Ausgleichs – einmal pro Menschen­alter. Die leidenschaftliche Kritik immer neuer Prophetengenerationen an groben Ungerechtigkeiten im Volk spricht nicht dafür, dass Israel seine Erlassjahr-Chance voll genutzt hat. Aber es hat dafür auch einen bitteren Preis gezahlt.

Wir sind Zeitzeugen und Betroffene einer Wegstrecke unseres Volkes, wo es zu erken­nen gilt, ob der Preis für unsere Wirtschaftsordnung zu hoch wird – so hoch, dass wir sie mit den Willensbekundungen Gottes nicht mehr vereinbaren können.

Klar ist die Sache nur für die Ärmsten der Armen: sie können sich aufrichten in der Gewissheit, dass sie den gerechten Gott an ihrer Seite haben. Und der will keineswegs, dass die Dinge sich erst im Himmel ändern.

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