2. Advent, 7. Dezember2008
Beginn der 50. Jahresaktion „Brot für die Welt“
Die Christenmenschen haben zu Beginn des Gottesdienstes eine Wiedergabe des Plakatmotivs „Es ist genug für alle da“ als Postkarte überreicht bekommen. Die Predigt folgt den Gestaltungselementen des Plakates. Nach dem Gottesdienst können sich die Leute auf Wunsch auch die Plakatformate mitnehmen.
Ich weiß nicht, ob jemand von Euch letzten Sonntag den Fernsehgottesdienst zur Eröffnung der 50. Jahresaktion „Brot für die Welt“ in Berlin miterlebt hat. Wenn nicht, macht nichts – wir holen die Eröffnung für unsere Gemeinde heute morgen nach. So eine Eröffnung, wenn sie Sinn haben soll, muss mehr eine Sache des Herzens sein als ein Medientermin. Darum bitte ich Euch, dass ihr eure Herzen öffnet für das in Berlin proklamierte Leitwort von „Brot für die Welt“ für die kommenden Jahre:
Es ist genug für alle da
Wir sehen auf den ersten Blick, dass die vier Besteckteile auf der Karte in Kreuzform zusammen gelegt worden sind. Schon deshalb, weil sie sich nicht treffen im Schnittpunkt der Diagonalen, sondern so, dass die Proportionen eines Kreuzes entstehen; eines richtigen Kreuzes, wie es römische Herrscher tausendfach benutzten; als Werkzeug für den Foltertod von Sklaven und Unbotmäßigen. Jesus war einer, nur einer, von ihnen.
Die Grausamkeit des wirklichen Kreuzes ist als ständiger Anblick genauso schlecht auszuhalten wie die Fleischerhaken in Hitlers Mordstätte Berlin-Plötzensee oder wie eine einsatzbereite peinlich saubere Gaskammer in einem US-Gefängnis. Deshalb hat das Kreuz als Kennzeichen des Christentums nicht als grobes Balkenwerk Karriere gemacht, sondern künstlerisch gestaltet, von den Schöpfungen mittelalterlicher Goldschmiede bis zum Kreuz am Halskettchen – zu kaufen bei den fliegenden Händlern unserer Fußgängerzonen.
Das Besteck-Kreuz auf dem „Brot für die Welt“-Plakat entfernt sich vom Folterinstrument nicht durch den Gebrauch von Gold, Silber und Edelsteinen. Dafür umso nachdrücklicher. Saubere Essbestecke wecken ja das warme Gefühl von Essvergnügen, Tischgemeinschaft und anschließender Sättigung. Iwan Pawlow, der berühmte russische Forscher, der Hunden per Klingelzeichen vor der Fütterung das Wasser im Maul zusammenlaufen ließ, hätte – da bin ich mir sicher – ähnliche Versuche mit Menschen und Essbesteck anstellen können. Bei mir jedenfalls hätte das geklappt.
Das Besteck ordentlich hinlegen, in meinem Elternhaus war das der letzte Schritt, der uns in Sachen Tischdecken beigebracht wurde. Später, als studentischer Aushilfskellner, konnte ich das Silberzeug den Gästen auch nicht irgendwohin knallen.
Das Besteckkreuz gewährt uns einen Blick auf den Esstisch der Menschheit. Die Stäbchen holen das größte Volk der Erde, die Chinesen, an den Tisch. Nicht das China-Restaurant ist gemeint und meine vergeblichen Versuchen, mit Hilfe dieser Dinger etwas in den Magen zu kriegen. Gemeint sind die kleinen Leute in Dörfern und Millionenstädten, die von den Erträgen ihrer Knochenarbeit satt werden müssen.
Die etwas olle Gabel mit dem leicht verbogenen linken Zinken, sie mag stehen für alle kleinen Leute in unseren Weltgegenden. Für alle, die einmal am eigenen Leib erlebt haben, dass das Brot und die Kartoffeln knapp waren; für die Nachbarinnen und Nachbarn, die ständige Gäste der 800 Tafel-Initiativen in unserem Land sein müssen; für die allein erziehenden Hartz IV-Mütter, für die die Fernseh-Kochshows mit teuren Zutaten und guter Stimmung aus einer anderen Welt kommen.
Dann ist da der Holzlöffel, zu breit, um ihn in den Mund zu stecken. Er ist da zum Austeilen. Mit ihm wird geschöpft aus Töpfen voll Reis, Mais, Hirse, Maniokbrei. Auf Teller, und manchmal auch nur auf Stücke von Bananenblättern. Das ist besonders praktisch, denn den Abwasch besorgt das Vieh. Und die Leute essen mit den Fingern. Ein großer Teil unserer Tischnachbarinnen und -nachbarn tut das. Ein etwas verunsicherter Herr aus dem Gemeindekirchenrat wollte es genauer wissen. „Und was machen Sie zuerst beim Essen,“ fragt er den indischen Gast. Der lacht und gibt zur Antwort. „Hände waschen natürlich.“ Im Laufe des Abends erklärt er dann noch, dass man mit den Fingern niemals zu heiß isst – logisch eigentlich. Damit hatte er gewonnen.
Betrachten wir schließlich das Messer, als stammte es aus dem Besteckkasten in unserer Küche. Wir normalen Leute mit normalen Ansprüchen ans Leben. Satt werden, natürlich, aber doch noch etwas mehr, bis hin zum Urlaub und der Möglichkeit, das Auto am Laufen zu halten, oder die Enkel hier und da von Rente und Erspartem zu unterstützen. Zum „etwas mehr“ gehören auch unsere Ansprüche an die Beschaffenheit unserer Lebensmittel. Fleisch, erzeugt durch Verfüttern ganzer Gebirge menschlicher Nahrungsmittel in der Schlachtvieh-Industrie, soll schon sein, wann immer uns danach ist. Niemand braucht ein Messer bei Tisch so nötig wie wir.
Wir alle treffen uns am Tisch der Menschheit; gottgewollt, denn jedes Menschenkind ist ein liebevoller Gedanke Gottes. An diesem Tisch gilt kein Drängeln und Schubsen. Futterneid ist überflüssig. Es ist ja genug für alle da – obwohl der Holzlöffel, wenn wir ihn als Schüssel deuten, etwas unterdimensioniert wirkt. In der Tat, das ist ein nicht unwichtiger Teil des Problems mit der Ernährungsgerechtigkeit in unserer Zeit: unsere Zukunftsangst lässt die Schüssel kleiner, erbärmlicher erscheinen, als sie ist. Das mindert die Bereitschaft, privat und politisch zu teilen.
„Es ist genug für alle da“, setzt die Aktion „Brot für die Welt“ im Namen Jesu dagegen. Der Grafiker deckt mit dem Farbwechsel den Hintersinn dieses Satzes auf. Es ist genug, Ausrufungszeichen! Es ist endlich genug, dass die Menschheit sich abfindet mit einer Milliarde Hungernder. Mit dem Schicksal afrikanischer oder asiatischer Schwangerer, so schlecht ernährt, dass sie Babys mit unabänderlich geschwächten Gehirnen zur Welt bringen. „Es ist genug!“ Das müssen wir hören als Ruf unseres empörten Gottes. Ein Vorgang, den wir bitter ernst nehmen müssen, solange unser Glaube uns etwas bedeutet.
„Es ist genug“. Das ist genauso der Protestschrei aller Armen, die ihr Lebtag keine faire Chance gehabt haben, sich und ihre Kinder menschenwürdig zu sättigen. Die Bibel wiederum lehrt uns, dass Gottes Ohr die Schreie der Armen herausfiltert aus dem Geräuschpegel der Welt. Vieles mag da untergehen. Der Schrei „Es ist nun endlich genug“ nicht. Nehmen wir die rote Unterzeile dazu, dann wird daraus ein Satz des Vertrauens und der Hoffnung „Es ist genug für alle da“. Wir Christinnen und Christen können gar nicht anders, als dabei zuerst an das Bild bei der Speisung der 5.000 Männer und ihrer Familien zu denken. Die Evangelist Lukas beschreibt ausdrücklich, dass die Menschen sich auf Jesu Geheiß zu überschaubaren Mahlgemeinschaften zusammensetzen, an die hundert rein rechnerisch. Getrennt wie wir heutigen nach Herkunft, Kulturen, seelisch sogar angewiesen auf überschaubare Verhältnisse. Aber alle gespeist aus derselben Hand, die im Auftrag Gottes austeilt; alle davon profitierend, dass andere ihre gerade ausreichende Nahrung nicht für sich behielten, sondern sie Jesus anvertrauten, ungeteilt.
„Es ist genug für alle da.“ Ein Satz, der für uns in der Begegnung mit Jesus zum Glaubensbekenntnis wird. Aber der menschliche Forschergeist, der ja schließlich zu den guten Gaben Gottes zählt, stimmt ein. Ja, es ist genug da, wirklich für alle – auch für die noch nicht Geborenen, wenn wir Menschen einige Verhaltensregeln einhalten, die Vernunft und Gewissen uns nahe legen. Sie im einzelnen auszubreiten, ist die Sonntagspredigt nicht der richtige Ort.
Weil wir aber schon vor Gott verpflichtet sind, zu wissen, was wir tun, sollte im kommenden Jahr in der Gemeinde Raum sein für die Inhalte der „Brot für die Welt“-Kampagne „Niemand isst für sich allein“; auch für das Gespräch über konkrete Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen der großen Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“. Das renommierte Wuppertal-Institut hat sie für unsere Kirche und den großen Umweltverband BUND erarbeitet. Für jeden Gemeindekirchenrat steckt darin ein äußerst praktisches Maßnahmenbündel, das eine Menge zu tun hat mit täglichem Brot oder Hunger, mit Krieg oder Frieden für unsere Kinder und ihre Zeitgenossen.
Wie gesagt, keine Einzelheiten, nur soviel: vieles von dem, das sein muss, damit alle satt werden, wird den Alten unter uns bekannt vorkommen. Als Merkmale des Alltags in einer Zeit, die nicht unbedingt die „gute alte“ war, aber eben doch eine Zeit menschlichen Lebens, unseres Lebens. Die Speisepläne unserer Elternhäuser; der schlichte Aufwand unserer Ferien und Urlaubsreisen; das Leben vor dem ersten Autokauf; die vielgestaltige Praxis des Pflegens und Reparierens; Kleiderschränke, die noch nicht aus allen Fugen krachten; Menschen, die allein dadurch sparsamer waren, dass sie es schafften, zusammenzuleben.
Vieles von dem ist vergessen, abgehakt. Wir mögen den Jüngeren damit auch nicht auf die Nerven gehen. Aber geblieben sind die Prägungen durch Liebe, Freundschaften, Vertrauen zum Leben, die damals wachsen konnten – ganz unabhängig vom materiellen Aufwand, den unsere Familien sich leisten konnten. Geblieben sind natürlich auch die bitteren Erfahrungen, private wie solche, die unser ganzes Volk betroffen haben – aber auch das hatte mit Bescheidenheit oder Überfluss wenig zu tun. Deshalb, solange Gedanken und Erinnerung noch klar sind: wir sind den Jungen unsere Erfahrungen schuldig. Und sie werden uns zuhören, wenn unsere Worte ehrlich und solidarisch klingen.
Unten rechts steht auf der Karte „50 Jahre Brot für die Welt“. Gemeint sind natürlich die vergangenen 50 Jahre seit 1959. Für mich waren sie vor allem eine Volkshochschule in Weltbürgertum durch nachhaltige Begegnungen mit hunderten Töchtern und Söhnen Gottes aus aller Herren Länder. Aber die „50“ lässt sich auch lesen als Zahl der Hoffnung. Nicht, dass es 2058 „Brot für die Welt“ noch gibt. Das darf sein, aber das muss nicht sein. Ungleich wichtiger ist, dass im Jahr 2058 Christenmenschen ohne Verzweiflung in der Stimme noch beten können „Unser tägliches Brot gib uns heute“ – ohne Verzweiflung, weil wir Heutigen im Vertrauen auf Gottes Zusagen die Zeichen unserer Zeit ernst genommen haben.