1. Sonntag nach Epiphanias, 8. Januar 2012
„Ihr habt gehört, dass zu den Vorfahren gesagt wurde: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.“
(Matthäus 5, 43-44)
Wenn wir zu einer Trauerfeier gehen, kennen wir den Anlass, auch wenn der tote Mitmensch nicht zu unserem engsten Lebenskreis gehört hat. Wir kennen den Namen, haben oft ein vertrautes Gesicht vor Augen, erinnern uns an verbindende Erlebnisse.
Heute morgen konntet Ihr nicht wissen, dass Ihr zu einer Trauerfeier, genauer gesagt zu einem christlichen Trauergottesdienst gehen würdet. Ich selbst habe mich erst gestern früh entschieden, diese Stunde dafür zu nutzen. Ein oder zwei Tage früher, dann hätte ich vielleicht noch eine Notiz in unserer Zeitung unterbringen können. Ihr hättet es Euch dann überlegen können, aber andere, die heute morgen nicht unter uns sind, eben auch.
Ich will mit Euch vor dem barmherzigen Gott trauern um die Opfer der Mordanschläge auf christliche Glaubensgeschwister und Gemeinden im Norden Nigerias, des volkreichsten Landes auf dem afrikanischen Kontinent. Wir wollen das tun zusammen mit den Familien und Kirchen der Ermordeten, zusammen mit den Bürgern Nigerias, unter ihnen Millionen von Muslimen, die ihren Glauben durch die Morde der Boko-Haram-Sekte beleidigt und entehrt sehen.
Ohne Worte zu finden, stellen wir uns an die Seite der Hinterbliebenen, der Traumatisierten, die Weihnachten und an den Feiertagen danach zum Gottesdienst gingen, ohne zu ahnen, dass es für geliebte Menschen ein Weg ohne Heimkehr sein würde. Pastor John Jauro in der Stadt Gombe sagte vorgestern: „Unsere Augen waren zum Gebet geschlossen, als sie hereinstürmten und auf uns schossen.“ Sechs Gottesdienstteilnehmer aus dieser Gemeinde sind tot.
Wir trauern aber nicht nur um die Toten, deren Namen unser Gott alle kennt. Wir betreten zugleich die Brücke der Fürbitte hin zu den Menschen, die mit der ungeheuerlichen Drohung leben müssen, sie hätten ihre Heimat innerhalb von drei Tagen zu verlassen, weil sie sonst alle weiteren Anschläge selbst zu verantworten hätten. Eine Drohung, die Nigerias Regierung zweifelsfrei und uneingeschränkt verurteilt. Aber vor Ort fehlt ihr das Gewaltmonopol zum Schutz der Bürger.
Zu unserem Verstehen: in einer 140 Millionen-Nation wie Nigeria besteht auch eine Minderheit nicht aus einer Hand voll Leuten, die um des lieben Friedens willen ruhig mal umziehen könnte. Da werden Hunderttausende mit Mord und Totschlag bedroht, damit eine weitere Gottesstaatsphantasie zur Alleinherrschaft gelangen kann. Freilich: keine weltanschauliche Minderheit auf Erden ist klein genug, dass man sie elementarer Bürger- und Menschenrechte berauben dürfte.
Unsere Fürbitte muss auch den zornigen, rachedurstigen Christen, vor allen den jungen Männern gelten. Als Christen und zugleich als Angehörige traditionell christlich geprägter Völker im großen Nigeria würden sie nicht zum ersten Mal den Weg blutiger Vergeltung betreten – den Irrweg, der uns schneller von Jesus trennt als jede andere Schuld. Bitten wir für Nigerias Kirchen und für die Nation um Christinnen und Christen, die trotz eigener Trauer und Entsetzen andere vom Abgrund der Rachefeldzüge zurückhalten können. Schließlich: bitten wir für uns selbst, so wie es ja immer auch zur Liturgie unserer Beerdigungsgottesdienste gehört. Wir erinnern uns dieser Worte: „Herr lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden.“
Denn wenn wir verfolgte Christinnen und Christen verfolgte Christen nennen und an die Weltöffentlichkeit zu ihrem Schutz appellieren, dann müssen wir auch um verfolgte und ermordete Muslime trauern und unsere Stimmen erheben. Erinnern wir uns: Die Mörder der etwa 8.000 muslimischen Jungen und Männer 1995 im Bosnischen Srebrenica haben sich zumindest eingebildet, den Segen ihrer radikal serbisch-nationalistischen orthodoxen Kirche zu haben. Sie konnten in diesem Wahn morden, weil hier eine europäische Schwesterkirche über Jahre Waffen und Waffengewalt gesegnet hat, einschließlich sog. ethnischer Säuberungen, die regelmäßig mit Mordtaten einhergingen.
Das eine schreckliche Beispiel muss genügen. Leider wären viel mehr zu nennen. Dieser Tage hörte ich von „links“ eine Stimme von fanatischer Kurzsichtigkeit. Christenverfolgung in Nigeria und Ägypten? Die Christen sollten sich mal nicht so haben. Da müsste und dürfte noch viel passieren, bis das historische Schuldkonto der Kirchen ausgeglichen sei.
Solche blinde Feindseligkeit, einer verzweifelten nigerianischen Marktfrau um die Ohren gehauen, charakterisiert sich selbst. Und wenn wir es mit Jesus halten, dann ist unser Platz sowieso dort, wo Menschen heute Trost, Nähe und Fürsprache brauchen – unabhängig von allem, was sonst noch war, was sonst nicht vergessen werden darf. Anders hat Jesus es nie gehalten.
Unsere Trauer hat als Kehrseite den Dank, den Dank dafür, dass die Botschaft Jesu von so vielen Töchtern und Söhnen Afrikas verstanden und in ihre Herzen aufgenommen wird. In der Bundesrepublik Nigeria allein zählen die Christen mehr Menschen, als sich bei uns zu den Kirchen bekennen. Sie lassen sich nicht einlullen mit „Opium für das Volk“. Viele ihrer Sprecherinnen und Sprecher fordern im Namen Jesu das tägliche Brot und gerechte Ordnungen für das ganze, die Religionen übergreifende Volk Gottes.
Weil wir nicht, wie auf unseren Friedhöfen Brauch, Trauernden die Hand geben und ein Wort sagen können, wollen wir jetzt rund um diese Figur aus traditionellem afrikanischen Kunsthandwerk Lichter anzünden, ungefähr so viele, wir wir Menschen in diesem Gottesdienst sind. Die Figur stammt zwar aus einer anderen Region des Kontinents. Aber ihre sichtbare Botschaft, dass wir Menschen über die Generationen hinweg nach Gottes Willen miteinander verbunden sind, ob wir leben oder sterben mussten, ist ein seelischer Schatz, den Afrikas Völker miteinander teilen, auch die Christen.
Gott wische die Tränen ab, er lasse die Herzen nicht im Hass versteinern, er schenke einer großen Nation unter Christen und Muslimen mutige Menschen des Friedens und er mache uns fähig, Glieder der Weltkirche zu sein, die mit den Trauernden trauern und sich mit den Fröhlichen freuen.