10. Sonntag nach Trinitatis, 24. August 2014
Es begab sich aber, als die Zeit erfüllt war, dass er hinweggenommen werden sollte, da wandte er sein Angesicht, stracks nach Jerusalem zu wandern. Und er sandte Boten vor sich her; die gingen hin und kamen in ein Dorf der Samariter, ihm Herberge zu bereiten. Und sie nahmen ihn nicht auf, weil er sein Angesicht gewandt hatte, nach Jerusalem zu wandern. Als aber das seine Jünger Jakobus und Johannes sahen, sprachen sie: Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und sie verzehre. Jesus aber wandte sich um und wies sie zurecht. Und sie gingen in ein anderes Dorf.
(Lukas 9,51-56)
Glaubenseifer – oder soll ich sagen, religiöser Fanatismus – will, dass Feuer vom Himmel fällt, auf die Feinde des einzig wahren Glaubens, die Feinde Gottes also. Ein Feind des wahren Gottes zu sein, gilt frommen Eiferern als todeswürdiges Verbrechen. So haben die Eiferer es gelernt, aufgesogen, oft von Kindesbeinen an. Sie haben es gehört aus dem Mund Respekt heischender Glaubenslehrer. Sie nannten sich Mullah, Rabbi, Guru, Priester – ja, manchmal auch Pfarrer. Im unserem konkreten Fall haben die Eiferer Namen, prominente Namen, mit festen Terminen im christlichen Heiligenkalender: Jakobus und Johannes, ehemalige Berufsfischer, Brüder, Jesus-Jünger der ersten Tage, nicht nur diesmal auffällig durch fromme Radikalität. In der für uns modern Weltreisende eher kleinteiligen Welt Israels zur Lebenszeit Jesu stolpern sie fast unvermeidlich in die Falle einer frommen Erbfeindschaft, die schon viele Jahrhunderte andauert. Eine Erbfeindschaft unter nahen Verwandten, verwandt nicht nur im Sinn familiärer Stammbäume; auch in Glaubensdingen sind die hautnah beieinander. Solche Feindschaften sind die schlimmsten.
Die Samaritaner alias Samariter lieben und verehren denselben Gott wie die Gläubigen Israels. Aber sie sind davon überzeugt, dass man ihn auf dem heiligen Berg Garizzim anbeten müsse und nicht in dem von Menschen gebauten Tempel zu Jerusalem. Außerdem belassen sie es als Heiliges Buch des Gotteswillens bei den Fünf Büchern Mose, ohne die Propheten, die Psalmen usw. Ausgerechnet in einem Dorf dieser Sippschaft suchen die Jesus-Leute ein Nachtquartier für ihren Meister. Dabei hätten sie es wissen müssen. Jemand, der wie Jesus zum verabscheuten Jerusalemer Tempel pilgert, kann nie und nimmer auf die Gastfreundschaft der Samaritaner rechnen. Der heilige Zorn der Abgewiesenen kocht hoch. Jakobus und Johannes erbitten von Jesus die Vollmacht zu einer Art Heiliger Inquisition, genauer die Vollmacht für eine Neuauflage des tödlichen Strafgerichts über Sodom und Gomorrha: „Herr, wenn du einverstanden bist, dann wollen wir Feuer vom Himmel herbeirufen, das sie verzehren soll.“ Wo Gott und seine Rechtgläubigen beleidigt worden sind, da kann und soll nur eine Stätte des Todes übrig bleiben und schauriges Zeugnis ablegen von diesem Frevel. Das ist nur folgerichtig, zwangsläufig, im geschlossenen Weltbild und Regelwerk eines Gottesstaates. Da mögen Außenstehende entsetzt mit dem Kopf schütteln. Der Inquisitor, der Feuer vom Himmel fallen lässt oder das Richtschwert zieht, bleibt unbeeindruckt: der Ungläubige wird sowieso nie begreifen. Sein Protest ist unerheblich. Er hat von der Heiligkeit Gottes keine Ahnung.
Jakobus und Johannes, die rachedurstigen Verteidiger der Ehre des abgewiesenen Jerusalem-Pilgers Jesus von Nazareth, ihres von Gott gesandten Herrn, kommen diesmal nicht zum Zuge. Aber die Kirchengeschichte quillt über von Mordtaten, die zur Verteidigung der angeblich verletzten Ehre unseres Gottes und seines Christus begangen worden sind – an taufunwilligen Ureinwohnern vieler Länder, durch die Jahrhunderte an sogenannten Sektierern, auch an berühmten unangepassten Söhnen und Töchtern der Kirche. Immer dieselbe tödliche Enge der Herzen und der Geister. Sie meinen Gott einen Dienst erweisen zu müssen, indem sie seine angeblichen Feinde vom Angesicht der Erde und aus der Glaubensgemeinschaft tilgen. Es gibt wenig anderes, was mich an meinem Jesusglauben öfter irre gemacht hat als diese Tatsache.
Heute, im Spätsommer 2014, agieren die Richter und Henker eines solchen schrecklichen Gottesstaates nicht im Zeichen des Kreuzes, sondern im Zeichen des muslimischen Halbmondes. Millionen Muslime sind wegen dieser frommen Vergewaltigung ihres Glaubens entsetzt. Und dennoch geschieht es derzeit, Tag für Tag. Die öffentliche Ermordung eines gefangenen US-Amerikaners ist nur ein gewollt dramatischer schriller Höhepunkt. Gemäß den Reaktionsweisen schockierter Menschenseelen soll dieses Verbrechen vor laufender Kamera gottgleiche Allmacht suggerieren und lähmendes Entsetzen verbreiten. Aber die eher alltäglichen Glaubensmorde davor und danach füllen den Kelch der Leiden für ganze Völkerschaften „Ungläubiger“, Jeziden wie Christen, auch Muslime der falschen Konfession bzw. der falschen Glaubenshaltung.
Jeder Gottesstaat, in welches heilsgeschichtliche Drehbuch seine Idee auch immer hinein geschrieben wird, ist gemeingefährlich. Zunächst einmal virulent – wenn aber unverhofft an die Macht gekommen, wie auf noch unabsehbare Zeit in Syrien und dem Irak, dann mit kalter Geschäftsmäßigkeit verwirklicht von Menschen, die meinen, ihrem Gott als Henker einen Dienst zu erweisen. Wie konnten die Herren der christlichen Inquisition die Reaktion Jesu auf das erschreckende Ansinnen seiner beiden eifernden Jünger verdrängen? Aus seinem Mund keine Anerkennung für ihren Eifer, noch nicht einmal eine Diskussion. Stattdessen eine der wenigen überlieferten heftigen Reaktionen, die kaum zu dem „lieben Herrn Jesus“ passen. Jesus „wies sie zurecht“, übersetzt die aktuelle Lutherbibel den alten Text so höflich wie möglich. Das ist keine freundliche Korrektur mehr, sondern ein unmissverständliches „So nicht!“ Im Umgang zwischen Mensch und Mensch, konkret zwischen Jesus und uns, ist das ein klares Stoppschild. Wer mir nachfolgen will, ruft gefälligst kein Sodom und Gomorrha auf anders Glaubende vom Himmel herab. Und ein Teil der Handschriften, auf denen unser Neues Testament beruht, überliefert dann noch eine Fortsetzung der Reaktion Jesu mit wörtlichem Zitat: „Wisst ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid? Der Menschensohn ist nicht gekommen, das Leben der Menschen zu vernichten, sondern zu erhalten.“
„Wisst ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?“ Jesu Frage klingt, wie rhetorische Fragen zu klingen pflegen. Eigentlich müsste die Sache ja klar sein. Aber für alle Fälle: ihr wisst doch hoffentlich, wes Geistes Kinder ihr seid. Kinder des Geistes, der Frieden und Versöhnung zu den Menschen tragen will; des Geistes, der in jedem Menschen das Kind Gottes, einen möglichen Täter, eine Täterin seines Willens zu sehen vermag. Des Geistes, der in „Ungläubigen“ wie dem Barmherzigen Samaritaner und dem heidnischen Hauptmann von Kapernaum vorbildliche Söhne Gottes erkannte – statt sie einer mörderischen Zwangsbekehrung zu unterwerfen. Leben vernichtende Mission, wie konnte es so etwas in Kenntnis dieser Jesusworte jemals geben?
Auch in den Tagen der mörderischen IS-Mission im Nordirak kann ich nicht anders, als diese Frage zuerst an die Gemeinschaft meiner eigenen weltweiten Kirche zu richten. Wir können nicht anders, als auch allen Anfängen zu wehren. Jeder missionarischen Aktivität, die mit dem Mittel der seelischen Angst Menschen für das Evangelium gewinnen möchte, sollten wir mit dem Jesus-Zitat des Tages begegnen: „Wisst ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?“
Aber das darf uns nicht daran hindern, den bösen Geist der blutbefleckten IS-Mission ohne Wenn und Aber beim Namen zu nennen. Fromme Muslime machen um den Namen Gottes womöglich noch mehr Aufhebens als wir Juden und Christen, wenn wir uns an das Erste Gebot halten. Und wer Allah – die arabische Gottesnennung für Muslime und Christen gleichermaßen – mit Inbrunst den „All-Erbarmer“ nennt, der muss schon in widergöttlichem Wahn gefangen sein, wenn er im Namen dieses „All-Erbarmers“ Leichenberge auftürmt.
Darum, lasst uns beten für die prominenten und die ungezählten namenlosen Muslime, die mit aller Kraft ihres Glaubens und aller Schärfe ihres Geistes diesen gottesstaatlichen Mördern die Stirn bieten. Sie tun mehr und Wichtigeres als all die kriegerischen Notbehelfe, die in diesen Tagen gegen den IS-Gottesstaat zusammengekratzt werden. Jesus, wie er sich uns heute wieder zu erkennen gegeben hat, zieht jedenfalls auch gegen IS nicht in den Kreuzzug, weil es Kreuzzüge für ihn so wenig gibt wie irdische Gottesstaaten. „Wisst ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid? Der Menschensohn ist nicht gekommen, das Leben der Menschen zu vernichten, sondern zu erhalten. „Herr wir glauben, hilf unserem Unglauben!“