2. Weihnachtstag, 26.12.2009
Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Hosea 11,1): »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.« Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Kinder in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht (Jeremia 31,15): »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«
(Matthäus 2, 13-18)
Das Nebeneinander ist schwer zu ertragen. Hier die Rettungsgeschichte: Gottes Warnung erreicht den Vater Josef rechtzeitig. Er ist empfänglich für die Stimme in seinem Traum. Er verschenkt keine Zeit. Sie entkommen. Immer wieder gemalt in der Geschichte der christlichen Kunst. Der legendäre Esel ist mit seinen Knochen sogar im Reliquienhandel des Mittelalters aufgetaucht. Sie finden ein Land, das sie aufnimmt. Auch keine Selbstverständlichkeit. Wir können Josef, Maria und dem Baby Jesus zu ihrem Exil am Nil nur gratulieren.
Ich verstehe genug von unserem Flüchtlingsrecht, um mir sicher zu sein: in Deutschland hätten sie keine Chance gehabt. Ich bitte euch: ein warnender Traum als Fluchtmotiv! Wo kämen wir da hin? Aber es zählt das Ergebnis: gerettet.
Doch da sind die vielen Häuser und Hütten, aus denen die Verzweiflungsschreie dringen. Erschütternd zusammengefasst in dem Satz: „Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen. Denn es war aus mit ihnen.“ Was liegt uns näher? An Gott verzweifeln, der der Einsatzgruppe des Herodes nicht den Weg versperrt? Oder an uns Menschen, die solchen Mordbefehlen gehorchen? Das sind ja Menschen, keine Monster. Menschen wie die Soldaten, Polizisten und SS-Männer, die die Kinder der Juden und der Roma in den Tod trieben – und sich zu Hause um die Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder sorgten. Diese Kindermörder auf Befehl haben in den beiden Generationen seit dem Ende des Nazireiches mehrfach Nachfolger gefunden. Z.T. sind mir ihre Spuren begegnet.
Die Frage, in der bereits der Irrsinn mitschwingt, wenn man sie nur stellt: „Und warum die Kinder? Warum verschont ihr nicht wenigstens sie?“ Sie wird sogar beantwortet. Sie hat weder den Nazis noch anderen Kindermördern den Mund verschlossen. „Aus Eiern werden Läuse. Töten wir sie jetzt nicht, dann werden sie zu den Rächern ihrer Eltern. Wer sich entschließt, den Feind auszurotten, kann nicht ausgerechnet die Kinder leben lassen.“ Die Kinderleichen in der Gegend von Bethlehem werden zum Kollateralschaden angesichts des Selbstbehauptungswillens eines Königs, der eigentlich nur ein Kind treffen will, treffen muss. Seien wir jedesmal in Verstand und Seele alarmiert, wenn wir im kommenden Jahr aus Afghanistan das Wort „Kollateralschaden“ hören.
Mir ist es egal, ob die Überlieferung vom Kindermord aus Bethlehem einen historischen Kern hat oder nicht, wie Verteidiger des geschickten Herrschers Herodes behaupten – übrigens nicht zu verwechseln mit dem Herodes, der in Jesu Passion vorkommt. Denn die Geschichte ist wahr im tieferen, im wesentlichen Sinn des Wortes. Es spricht für die Glaubenserfahrung unserer Vorfahren, dass sie ihr einen Platz so nahe bei der Krippe eingeräumt haben.
Wohin mit meiner schlimmen Irritation? Rettung für den, der unbedingt gerettet werden muss. Untergang für die anderen. Das ist mehr als ein Schönheitsfehler. Das tut bitter weh, sogar, wenn es nicht eigenes Erleben oder Leiden ist, sondern nur Teil unserer Glaubensüberlieferung.
Warum lässt mein Gott das zu? Die Wochenzeitschrift „Der Spiegel“ vergleicht in ihrer Weihnachtsausgabe den Gott der Bibel mit Allah – mit der naheliegenden Frage, wer im 21. Jahrhundert die besseren Karten hätte. Das journalistische Gutachten interessiert hier weniger. Wichtig, richtig ist aber die Beobachtung, dass unser Gott, verglichen mit der Allmacht Allahs, seinen Menschenkindern höhere Verantwortung für den Lauf des Lebens und der Welt auferlegt. Der Gott der Bibel liebt seine Kinder so sehr, dass er sich weit mehr von ihrem Tun und Lassen abhängig macht, als Muslime das glauben können. Wenn die sagen „Inschallah“ (wenn Allah will), dann meinen sie, dass ihr Gott letzten Endes alle Entscheidungen und Abläufe des Alltags und der Geschichte kontrollierend und entscheidend in der Hand hat.
Von unserem Gott wissen wir, dass er uns durchaus die Folgen unseres Handels erleben lässt, zum Guten wie zum Bösen: „Die Eltern haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden.“ Aber ebenso: „Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein.“
Wenn Menschen morden, haben wir kein Recht, „Inschallah“ zu seufzen. Wir stehen dann mit unserer Schuld vor Gott und haben seinen Lebensbund verletzt. Gottes Lebensregeln gelten in Israel, aber auch im Urteil Jesu nicht als Überforderung, sondern als brauchbar, als lebbar im wirklichen Leben. Das bewahrt uns nicht vor der Verzweiflung, dass wir vor Gott so völlig scheitern können, bis hin zu Schuld, bei der Vergebung menschenunmöglich scheint. Warum kann Gott uns so scheitern lassen? Weil er uns blind vor Liebe zu viel zutraut?
Die Überlebenden der Massenmorde haben nicht selten Schuldgefühle. Was hätte ich tun können, um auch andere zu retten? Meistens nichts. Aber jede Rettung zählt, das Kind, die Frau, eben nicht nur das eigene Leben. Und wer ein Leben rettet, und sei es nur, weil er einer warnenden inneren Stimme folgt, der rettet die ganze Welt.