Fundamentalismus

6. Sonntag nach Trinitatis, 31. Juli 2011


Ein schauerlicher Kontrast: Norwegen, das schöne Urlaubsland im Norden, schon vor 35 Jahren, als unsere Kinder klein waren. Die Insel, auf der wir dann vom Ruhr­gebiet aus die Jugendfreizeiten unserer Gemeinde organisierten, taucht unvermeid­lich in meiner Erinnerung auf. Die Ähnlichkeit mit der Insel, auf der vor zehn Tagen die vielen jungen Leute ermordet wurden, ist kein Zufall. Das ist eben Norwegen: Natur und Gemeinsinn. Dazu kommt seit Jahrzehnten der Reichtum aus dem Meer. Nein, nicht die Fische, sondern das Öl. Dieser Reichtum mag die Großzügigkeit und Gelassenheit noch gefördert haben, mit der das Königreich und auch seine Kirchen weltweit für Gerechtigkeit und Menschenrechte eintreten.

Unfassbar, was geschehen ist. Nein, das ist keine Phrase. Am wenigsten die Norwe­ger selbst haben eine solche Tat für möglich gehalten – nicht in ihrem Land.

Als es dann geschehen war, reagierten unsere Medien gemäß den Regeln ihres Ge­wer­bes. In solchen Fällen holt man auf schnellstem Weg die Experten, in diesem Fall die Terrorismus-Experten ins Studio. Ihre Auskünfte sollen Sicherheit, am besten Gewiss­heit in das Gefühlschaos bringen, das die Zuschauer überfallen hat

So bekamen wir dann wenige Viertelstunden nach den ersten Eilmeldungen aus berufenen Mündern zu hören, das sei die Handschrift des islamistischen Terrors; vermutlich eine Quittung für Norwegens Politik. Ein Einzelner kann das nicht gewesen sein, aus diesen und jenen technischen Gründen. Nicht wenige Nachbarin­nen und Nachbarn muslimischen Glaubens werden sich an diesem Freitagnachmit­tag auf Schlimmes gefasst gemacht haben.

Wir erinnern uns, wie schnell dies Expertenurteil im Papierkorb gelandet ist. Der festgenommene Täter sieht aus, wie wir uns einen Norweger vorstellen. Und seine Besessenheit folgt genau dem umgekehrten Muster: sein Wahn trieb ihn, Norwegen und Europa vor dem Islam retten zu müssen. Deshalb der Massenmord an den jungen Menschen, die diesem Todfeind angeblich Tür und Tor öffnen.

Und es war noch nicht Abend geworden, da streuten alle Sender einen neuen Angst­begriff in die Welt, den des „fundamentalistischen Christen“. Inzwischen steht fest, dass der Täter mit der Botschaft Jesu – wie verunstaltet auch immer – nichts zu tun hat. Alles waren nur hastige Schlagworte, die ein Kommentator vom anderen übernom­men hat.

Aber unsere freikirchlichen Mitchristen hier in Magdeburg mussten sich im Fernse­hen zwei Tage lang immer wieder Filmchen anschauen, in denen problematisiert wurde, ob von ihnen wohl eine Gefahr für das Wohl unseres Landes ausgeht. Wie sagt der Volksmund? „Etwas bleibt immer hängen.“ Die kaum verhohlene Botschaft dieser medialen Schnellschüsse: Ihr vernünftigen und friedfertigen Bürgerinnen und Bürger, steht zusammen gegen unberechenbare Christinnen und Christen. Und weil man die harmlosen nicht von den gemeingefährlichen unterscheiden kann, behält man die Frommen besser alle im Auge!

Journalistische Christenhatz kann man das sicher nicht nennen. Aber diese tagelan­gen Warnungen vor „fundamentalistischen Christen“ sind schon ein ernsthafter Anlass, über uns selbst nachzudenken.

Das kurze Evangelium dieses Sonntags kommt dazu wie gerufen. Der Missions- und Taufbefehl, mit dem Jesus den Grundstein zu der Weltkirche legt, zu der unsere Gemeinde heute gehört: kaum jemand unter uns Alten, die und der diese Sätze nicht als Konfirmanden auswendig lernen mussten; als Bestandteil der Eisernen Ration an christlichem Grundwissen.

Lesung Evangelium, Matth. 28,16-20

Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Jesus, der Auferstandene, weist die Richtung. Niemand anders hätte das gekonnt. „Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Christus“, stellt Paulus ohne Wenn und Aber fest (1. Korinther 3, 11). Es gibt also einen konkreten „Fundamentalismus“, unverrückbar, jenseits aller innerchristlichen Gruppie­rungen. Keine Christin, kein Christ kann sich von diesem Fundament lossagen. Christ­sein ohne Christus, das geht nicht.

Mit Christus, das ist natürliche keine leere Formel, sondern eine prall gefüllte Festle­gung: mit Christus, das schließt das weltverändernde Gebot der Feindesliebe ein; den Neuanfang für den Verlorenen Sohn; die Tatkraft des Barmherzigen Samariters; die Umkehr des Zöllners Zachäus; Jesu Lob des Glaubens, der den heidnischen Haupt­mann von Kapernaum zu ihm führte.

„Lehrt die Menschen, sich an alles zu halten, was ich euch befohlen habe.“ Jesus erteilt seine Befehle nicht auf einem Kasernenhof, auch nicht von einem Gelehrten-Katheder. Die Verbindlichkeit seiner Botschaft gewinnt Gestalt durch die Freude, die Dankbarkeit, den neu gewonnenen Lebensmut der Menschen, die ihm begegnet sind. Diese Überlieferungen der Evangelien haben dabei durch die ganze Kirchengeschich­te eine beständige Fortsetzung erfahren.

Liebe, Vergebung, Gerechtigkeit, kurzum, dass die Erde ein Ort ist, wo Gottes Wille geschehen kann – „auf diese Steine können Sie bauen“. Alleinstellungsmerkmale für die christlichen Kirchen als „Salz der Erde“. Fundamente, die sich von den Bewohnern des Hauses nach den Gesetzen der Logik nicht in Frage stellen lassen.

Obwohl, in der Einleitung des Konfirmanden-Merkspruches ist genau davon die Rede. Jesu Jünger und Botschafter regieren krass unterschiedlich auf die Begegnung mit dem Auferstandenen. Die Mehrheit, vielleicht ist es die Mehrheit, betet ihn an. Einige, also mehr als einer oder zwei, zweifeln an dem, was sie erleben, zweifeln an Christus.

Das Fundament der Kirchen, wollte man es als Menschenwerk missverstehen, hat von der ersten Stunde an Risse. Sind diese Risse Zeichen Schwäche oder Toleranz, gar von der Großzügigkeit des Heiligen Geistes? Ich bin mir auf dem Lebensweg ziemlich sicher geworden, dass es gut so ist, weil es menschlich ist. Gott lässt seine Sonne nicht nur aufgehen über Guten und Bösen – sondern er lässt sie auch hin­durch­scheinen durch die sichtbaren und unsichtbaren Fenster der Kirchen auf Menschen, die an diesem Morgen Gott zu vertrauen vermögen, und ihren Nachbarn, die den Zweifel durchleben. Glaube und Zweifel, das ist zwar etwas völlig anderes als Gut und Böse. Aber es ist befreiend zu wissen, dass Gott uns nicht vorschnell oder gar endgültig in Schublaben steckt. Etliche zweifeln – und nicht selten ich gehöre ich zu ihnen. Aber nicht unser Glaube ist das Fundament der Kirche, sondern Gottes „Ja“ zum Glaubensweg Jesu.

Was ist nun mit diesem christlichen „Fundamentalismus“, der nach dem Massen­mord in Norwegen zum warnenden Schlagwort wurde? Gibt es sie, die gemeinge­fährlichen „christlichen Fundamentalisten“? Was ist das für ein Schuh, den man uns da hinstellt? Passt er uns oder nicht? Oder stehen da gleich mehrere Schuhe, über die Verschiedenes zu sagen ist?

Ein Schuh passt, seit es Christinnen und Christen gibt. Der gekreuzigte Christus sei „den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“, stellte der welterfahrene Missionar Paulus fest. Aus dem Zusammenhang jener Zeit herausgelöst, könnte man heute sagen: „Für die Frommen ein Ärgernis und für die modernen Menschen ein Unsinn.“ Ein Leben, das endet in schmählichem Scheitern, als Fundament für Glau­ben, Hoffnung und Liebe?

Im Zeitalter von „Geiz ist geil“ und verwandten Sinnsprüchen liegt die Bergpredigt nicht im Trend . Aber wann hat sie das je getan? Trotzdem, sie lässt sich weder tot­schweigen noch weichspülen. Ja, und auch, wenn es um ferne Mitmenschen geht, ist dieser Jesus überhaupt nicht misszuverstehen: „Macht Menschen aus allen Völkern zu Jüngerinnen und Jüngern.“ Knapper und eindeutiger kann man die „gleiche Augenhöhe“ aller Menschenkinder nicht feststellen. Gleiche Augenhöhe vor Gott begründet gleiche Augenhöhe voreinander. Kein Mensch ist unfähig oder unwürdig, im Lebensbund mit unserem Gott zu leben. Freilich, welchen Weg Gott zum Herzen meines Mitmenschen sucht, bleibt allein sein Ratschluss.

Christus: das Fundament, der Eckstein, und zugleich der Stein des Anstoßes. Unsere Mitmenschen sollten reichlich Anlass haben, uns ein verlässliches Fundament zu bescheinigen, wenn es dabei um den anstößigen Jesus geht. Aber Christus selber muss uns bewahren vor dem anderen „Fundamentalismus“, der der dunkle Teil unserer Kirchengeschichte ist; vor jenem blinden „Fundamentalismus“, der die Welt im Namen Gottes einteilt in „Gut“ und „Böse“ und der dann gnadenlos richtet, im Großen wie im Kleinen, Zwischenmenschlichen.

Kreuzzüge vor bald tausend Jahren und halboffiziell noch heute gehören dazu; ent­setz­liche Vermengung von Mission und Eroberung; Handlangerdienste für Führer und Diktatoren; Blindheit für die Ursachen von Armut und Hunger. Oder auch nur in frommer Rechthaberei den Stab über Menschen brechen. Jener selbstgerechte „Gut-und-Böse-Fundamentalismus“, der den Namen Jesu missbraucht.

Aber, so Jesus, es werden nicht alle, die mich ihren Herrn nennen, das Leben gewin­nen, sondern die den Willen meines Vaters tun. Wir stehen vor der Wahl. Fundament oder blinder Fundamentalismus? Aber das keine einsame Entscheidung. Denn das letzte Wort an die Seinen setzt einen Neubeginn: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

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