1. Sonntag nach Weihnachten, 30. Dezember 2007
Christus spricht: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“
(Johannes 14,19)
Nehmen wir das Foto auf der Briefkarte mit der Jahreslosung 2008 als Gleichnis. Zu mir spricht das Foto deshalb besonders deutlich, weil ich direkt daneben stand, als es Anfang 2006 gemacht wurde. Auf dem Gelände einer kirchlichen Gesundheitsstation in der Nähe von Ouagadougu, der Hauptstadt des afrikanischen Staates Burkina Faso, wird ein Tiefbrunnen gebaut. Denn eine zuverlässige Wasserversorgung ist das A und O, auch im Gesundheitswesen.
Der Brunnenbauer, in einem leeren Ölfass sitzend, wird gerade mit der Seilwinde – von Hand natürlich – zur Frühstückspause nach oben geholt. Er blickt dem Tageslicht entgegen, mit Interesse, aber ohne Anzeichen von Angst oder besonderer Erleichterung. Er ist jeden Tag da unten, in solchen tiefen Schächten. Er kennt die typischen Arbeitsunfälle, die es zu vermeiden gilt. Aber er kann als gesuchter Spezialist seine Familie sicher ernähren, jedenfalls für die Verhältnisse seines Landes.
Dennoch, ich habe in den Schacht gesehen und konnte in der Tiefe den Grund nicht erkennen. Gut möglich, dass es soweit in den harten Boden der Sahelzone hinunter geht, wie der Diesdorfer Kirchturm hoch ist. Nein, für mich wäre das kein Arbeitsplatz! Platzangst in jeder Form ist hier fehl am Platze. Selbstvertrauen und Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Teams an der Erdoberfläche sind genauso wichtig wie die Fachkenntnisse im engeren Sinn des Wortes. Der Brunnenbauer braucht nicht nur das Handwerkszeug seines Berufes, er braucht genauso das Herz, den Geist des Brunnenbauers.
Vom Geist, der hilft, das Leben zu bestehen, ist in dem Satz, der als Jahreslosung ausgewählt wurde, nicht die Rede. Stattdessen von verheißenem Leben. Aber die Christus-Rede, der die Losung entnommen wurde, die handelt sehr wohl vom Geist. Hätten wir die Tradition vieler christlicher Gemeinden in aller Welt, die ihre Bibeln mit zum Gottesdienst zu bringen, wir könnten uns mit einem Blick überzeugen.
Den Rahmen bildet der letzte Abend Jesu mit den Seinen, so wie ihn der Evangelist Johannes schildert. Vertraut ist uns daraus die Szene der Fußwaschung. Vor allem aber besteht die Beschreibung dieses Abends aus langen Reden Jesu. Das Oberthema dieser Reden ist die bevorstehende Trennung der Jünger von ihrem Herrn durch dessen Leidensweg.
Sie werden nicht mehr von Angesicht zu Angesicht mit ihm zusammen sein und darüber tief traurig sein. Aber, sagt Christus, „ich will euch nicht als Waisen zurück lassen“. Deshalb will er Gott um einen anderen Tröster für die Seinen bitten, der sie niemals verlassen wird. Er nennt diesen Tröster den „Geist der Wahrheit“.
Dieser Geist der Wahrheit wird den Jüngerinnen und Jüngern die Augen öffnen für die ganz neue Gegenwart des Auferstandenen. Zwischen ihm, dem Auferstandenen und den Seinen wird eine neue unzerstörbare Gemeinschaft begründet, denn „ich lebe und ihr sollt auch leben!“ Das ist der Sinnzusammenhang, in dem die Jahreslosung 2008 verstanden und als Impuls für unseren Glauben genutzt werden sollte.
Da sind Jünger Jesu, die sich in ihrem Glauben matt und verängstigt fühlen, weil sie meinen, das Wichtigste von allem verloren zu haben: Jesus selbst, auf den sie einmal mit ganzem Herzen gesetzt hatten. Wenn die Liebe zu ihm nur noch Erinnerung ist, dann wird es ungeheuer schwer, eigentlich unmöglich, seiner Berufung, seinem Auftrag treu zu bleiben.
Jesus verlieren? Und mit ihm alles, weshalb es Sinn hat, Christin oder Christ zu sein? Die Nähe von Mensch zu Mensch – so wie die Jünger – konnten wir nicht verlieren, weil zwischen uns und ihm die Geschichte der Kirche, zweitausend Jahre Menschheitsgeschichte liegen. Aber was ist mit den Merkmalen der Verbindung mit Jesus, auf die es für uns Heutige ankommt? Wie viele Eselsohren vom vielen Lesen hat meine Bibel? Welches Jesuswort, welche seiner Taten hat mich zuletzt bewegt und selber in Bewegung versetzt? Alles was in unserem Glauben nicht aus dem persönlichen Umgang mit Jesus kommt, ist Beiwerk. Jesus ist das eine Wort Gottes, auf dem der Glaube ruht. Ein anderes haben wir nicht. Deshalb konnte ich einer These zustimmen, die ich dieser Tage las: an der Stelle, an der für die Muslime ihr Koran steht, steht für uns Christinnen und Christen Jesus.
In diesem Sinne: der Koran gilt den Muslimen als wörtlich von Allah so gesprochenes Gotteswort. Darum kann er auch nicht auf gültige Weise aus dem altarabischen in andere Sprachen übersetzt werden. Und die türkischen oder iranischen Kinder in Magdeburg müssen den Koran auf arabisch büffeln, obwohl das für sie eine fremde Sprache ist.
So – und dennoch ganz anders – ist Jesus nach dem Zeugnis des Neuen Testaments das sprechende Wort Gottes. Aber eben nicht eines, das einmal geredet hat, um nun nur noch studiert zu werden. Zwischen der vergebenden, tröstenden, Mut machenden Stimme Jesu von Nazareth und unserem Neuen Testament liegt ja schon eine Übersetzung: die von Jesu Muttersprache Aramäisch ins neutestamentliche Griechisch.
Und seither gibt es tausende Übersetzungen, getreu dem Auftrag, die Gute Nachricht in die Häuser und Herzen der Menschen in aller Welt zu tragen. Anlass für Übersetzungen war nicht nur der missionarische Kontakt mit Völkern, die aus unserer Sicht weit entfernt leben. Anlässe boten und bieten auch die Eindrücke, dass historische Übersetzungen der Weiterentwicklung jeder Sprache nicht mehr gerecht werden. (Beispiel: „Sintemal…“ Lukas 1,1) Dabei mussten Übersetzerinnen und Übersetzer manches wagen (kleiner Seehund). Und sie wagen auch heute manches, wofür sie dann kräftige verbale Prügel beziehen („Der Junior-Chef“). Meine Frau findet diesen Versuch, das NT zu übersetzen bzw. auszugsweise nachzuerzählen, ziemlich daneben. Vielleicht hat sie recht. Aber der Übersetzer bzw. Nacherzähler wagt etwas, was den Willen Jesu, zu den Menschen zu reden, ernst nimmt. Und nur wer nichts wagt, macht keinen Fehler – oder einen riesigen. Das gilt auch in Glaubenssachen.
„Der Junior Chef“ und „Der große Boss“ (Altes Testament – meine Frau hat es entsorgt) ist vielleicht nicht das Gelbe vom Ei. Aber der Versuch liegt auf einer Linie mit den ersten beiden Worten der Jahreslosung 2008: „Ich lebe…“ Davon lebt unser Glaube. Davon lebt unsere Kirche. Dass Gott in der Auferstehung Jesu alles bestätigt hat, wofür Jesus eingestanden hat: Liebe, Barmherzigkeit, Überwindung all dessen, was Menschen zu Feinden macht, Gerechtigkeit für die Armen.
Und der Auferstandene hört nicht auf, den Menschen ins Herz und ins Gewissen zu reden. Tote reden nicht. „Ich lebe…“ ist mehr als ein Glaubensartikel, auf geduldiges Papier gedruckt. „Ich lebe…“ meint, ich lebe mit dir, ich lebe für dich, ich lebe für die Hoffnung der Welt. Christenleben im Jahr 2008 ist nichts anderes als ein messbarer Lebensabschnitt mit dem sprechenden und handelnden Jesus. Ein wenig abenteuerlich, weil man ja nie weiß, welche Wege uns ein lebendiger Partner vorschlagen und zeigen wird. Aber der Auferstandene und Gegenwärtige wird sich treu bleiben, so wie wir ihn kennen können, wenn unsere Bibel Eselsohren hat.
Uns verspricht die Jahreslosung 2008: „Ihr sollt auch leben.“ Den absterbenden, den gestorbenen Glauben zu neuen Worten und Taten aufwecken, das ist das Werk des Heiligen Geistes an unseren Herzen. Die Jahreslosung verspricht mir keine Heilung körperlicher Gebrechen, im Regelfall jedenfalls nicht. Aber sie verspricht mir ganz fest, dass mein Glaube hellwach bleibt oder aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht; dass ich mit Jesus werde sprechen können; dass er mir zeigen wird, was ich um der Liebe willen tun oder lassen soll; dass er mir den Mund öffnen wird, wieder oder auch das erste Mal in meinem Leben, zu Mitmenschen über Jesus und mich zu sprechen, ohne falsche Feierlichkeit, im Alltag eben; dass ich Überbringerin und Überbringer von Vergebung und Hoffnung sein darf. Wenn das nicht Leben ist, was dann?
Manches von den Wegen, die er uns führen und begleiten wird im kommenden Jahr, mag dem tiefen, bedrohlich erscheinenden Brunnenschacht gleichen, aus dem der afrikanische Handwerker ans Tageslicht zurückkehrt. Aber er scheint von einem Geist geleitet zu sein, der als Gleichnis dienen kann, für die Zusage, die die Jahreslosung 2008 uns allen macht: Christus spricht; „Ich lebe und ihr sollt auch leben!“