4. Sonntag nach Trinitatis, 5. Juli 2009
Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
(Genesis 50, 15-21)
Kennt Ihr das auch? Manche Bibelgeschichten sind in meiner Erinnerung fest mit konkreten Erlebnissen verbunden, so diese. Ich erinnere mich an die Nachfeier zu einer kirchlichen Trauung, Das war ungefähr 1952 im Saal unseres nagelneuen evangelischen Gemeindehauses im stockkatholischen Münsterland. Ich war zwölf. Ich durfte am Katzentisch mitfeiern, denn ich hatte beim Aufbau der Festtafel geholfen. Das Besondere und damals eine Sensation, die neue Zeiten ankündigte: der Bräutigam war ein katholischer Hoferbe, die Braut die Tochter eines unserer Gemeindeältesten, eines Flüchtlingsbauern aus Schlesien. Die Trauung in der Dorfkirche St. Ludger war katholisch. Etwas anderes war völlig undenkbar. Aber die Braut behielt ihre Konfession, und die Feier fand in unserem Gemeindehaus statt, einvernehmlich. Und die katholische Dorfelite hörte sich wohlerzogen die Tischrede unseres evangelischen Pfarrers als seine nachgeholte Traupredigt an. Dessen ausführliche Rede kreiste um den Kernsatz dieser Geschichte: „Ihr gedachtet es böse zu machen – aber Gott gedachte es gut zu machen, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ Immer wieder kam er darauf zurück, wie die Regeln der Redekunst es nahelegen.
Wir gedachten es böse zu machen, wir Schlesier und Ostpreußen und ihr Westfalen, als wir alle gemeinsam dem Hitler gefolgt sind in Raubkriege und auf den Wegen des Holocaust (wobei man diesen Begriff damals noch nicht benutzte). Aber Gott gedachte es gut zu machen und unser (deutsches) Volk am Leben zu erhalten – dennoch! – wovon diese erste interkonfessionelle Eheschließung zwischen Einheimischen und Flüchtlingen Zeugnis ablege. Vielleicht wäre das Risiko dieser die Zeit deutenden Traupredigt an der Kaffeetafel ja schief gegangen. Aber die katholischen Bauern hatten ihren Kardinal von Galen, den Löwen von Münster. Der hatte öffentlich gegen die Euthanasiemorde der Nazis protestiert. Irgendwie fühlte sich jedes Bäuerlein dadurch ein bisschen als Widerstandskämpfer. Nur: die Flüchtlinge hatte man 1945 wirklich nicht ins Dorf eingeladen. Der Priester rettete die Situation. Er erhob sich. Er stimme den Worten des evangelischen Amtsbruders aus ganzem Herzen zu – „Amtsbruder“, heute ein eher behäbiger Ausdruck, den hiesige Pastoren gern vermeiden. (Wobei ich „Kollege“ überhaupt nicht schöner finde.) Damals, auf einen Evangelischen öffentlich angewandt, ein Wort wie ein Erdbeben. Und weil das Brautpaar sich ja beim Tischtennis im evangelischen Gemeindehaus nähergekommen sei und weil dieser Ort dem Herrgott wohlgefälliger sei als das Wirtshaus – „hört, hört“ – wolle er dieses Paket mit Schlägern, Bällen und zwei Reservenetzen gern als Geschenk hinterlassen. Die „katholischen Schläger“ waren bei uns Jugendlichen später ein fester Begriff, weil sie auf der einen Seite mit Gumminoppen und auf der anderen mit Schaumstoff bespannt waren – etwas ganz Edles. „Ihr gedachtet es böse zu machen – aber Gott gedachte es gut zu machen, nämlich ein großes Volk am Leben zu erhalten.“ Unser Pfarrer hat damals einen Dorfskandal riskiert, nicht das einzige Mal in seiner Laufbahn. Aber hat er auch recht getan? Was den Versuch betraf, den Dörflern die Augen zu öffnen für den radikalen Wandel der Zeit nach Hitler, wahrscheinlich ja. Aber bei der Deutung der Geschichte vom happy end der Beziehung zwischen Josef und seinen Brüdern?
Nun, das Wasser stand denen bis zum Hals, weil ihre böse Tat sie einzuholen schien. Wie wir wissen, hatten sie Josef, den Träumer, in die Sklaverei verkauft und das Ganze mit einer Lügengeschichte getarnt. Rausgekommen ist es doch. Und die Schuldigen gehen davon aus, dass allein der Respekt vor Vater Jakob den allmächtig gewordenen Josef von Racheakten abgehalten hat. Jetzt ist Jakob tot. Josefs Brüder fürchten nun die Häscher des ägyptischen Superministers. Was tun? Ihnen fällt nichts anderes ein als der Versuch, die alte Autorität wieder aufzurichten. Sie erfinden eine Botschaft des toten Vaters an seinen mächtigen Sohn. „Vergib deinen Brüdern, endgültig.“ Und sie wollen seine Sklaven sein. Das ist allemal besser, als Insassen seiner Todeszellen zu sein. Josef selbst ist der beste Beweis, was aus einem Sklaven noch werden kann, solange er am Leben bleibt. Die Annahme liegt nahe, dass Josef den Trick durchschaut. Dass er weinen muss, spricht nicht dagegen. Weinen ist nötig, Weinen ist Erlösung, wenn es gilt, mit den niemals ausgelöschten schrecklichen Erfahrungen des Lebens fertig zu werden. Unser Seelenleben ist kein Computerprogramm mit einer Löschfunktion! Stattdessen besitzen wir die gesegnete Weinen-Funktion.
Die Brüder Josefs rettet nicht ihre Notlüge. Sie rettet die Lebenserfahrung, deren sich Josef vergewissert. Eine Lebenserfahrung, die zugleich und in Wahrheit seine Glaubenserfahrung ist. Gott lässt nicht fallen. Wunderbarerweise auch Schuldbeladene nicht. Gott will nicht, dass menschliche Gemeinschaften an der Summierung ihrer Schuld zugrunde gehen. Gott schließt seinen Bund mit dem ganzen Volk – ja, wie wir durch Jesus wissen, mit dem ganzen Volk auf Erden. Aber wir Einzelnen erleben diese Bundestreue als persönliche Errettung, manchmal da, wo eigentlich nichts mehr zu hoffen war. Eine Rettung, eine Bewährung, die die schuldig Gewordenen sich nicht selbst zusprechen können – obwohl sie, obwohl wir das regelmäßig versuchen; sei es nach politischen Katastrophen oder nach schuldbeladenen Katastrophen im persönlichen Lebenskreis. Bewährung, Vergebung muss zugesprochen werden von denen, die dazu das Recht und die Kraft haben. Josef mit seiner gesegneten Karriere mag das leichter fallen als manchem kleinen Menschen, der vor der Frage steht, ob er vergeben kann oder nicht.
Vergebung, das ist die Botschaft dieser Geschichte, ist mehr als eine Privatangelegenheit. Im Falle der Verschonung der Stammväter Israels durch ihren Bruder Josef ist dieser Satz logisch und zwingend: „Gott gedachte es gut zu machen, um ein großes Volk am Leben zu erhalten“, um ihm überhaupt erst eine Zukunft zu geben. Aber wir dürfen den Satz getrost in die kleine Münze unseres Lebens übertragen. Mit jedem Menschen, dem wir durch Worte und Zeichen der Vergebung eine Last abnehmen, hat Gott noch etwas vor. Wir wissen nicht, was – nur dass. Jeder Mensch, der auch nur einmal für einen Nächsten „Barmherziger Samariter“ war, der auch nur einmal dem Frieden und der Gerechtigkeit das Wort geredet hat, hat beigetragen zum Leben des Volkes Gottes auf Erden.
Vergeben können, wie Jesus es ausdrückt, die Vollmacht, auf Erden Schuld zu vergeben, ist keine Frage der Einstellung – oder gar der Moral. Vergeben können bleibt viel zu oft menschenunmöglich, buchstäblich. Ich kenne die chronische Wirkung offen gebliebener Verletzungen, die durch den Tod von Beteiligten für immer offen bleiben. Vergeben können Menschen, vergeben können wir, wenn wir wissen, was wir an unserem Gott haben: dass uns trotz aller Wunden und Verluste unseres Lebens nichts von seiner Liebe abschneiden kann.
Aus dieser Sättigung der Seele kann Josef auf die Unterwerfung seiner Brüder antworten mit dieser klassisch kurzen Frage: „Bin ich Gott?“ Viele in seiner Liga der Herrschenden antworten auf diese Frage mit einem verblümten oder auch unverblümten „Ja“, Josefs Vollmachtgeber auf dem Pharaonenthron nicht anders als neuzeitliche Supermänner. Josef hat zwar beste Karten, um sich den einen oder anderen Tempel bauen zu lassen. Er gebietet über das Brot. Und was könnte eine größere Quelle von Macht abgeben? Aber Josef, der Träumende, hat aus Fall und Aufstieg seines Lebensweges gelernt, dass er nicht Gott ist, natürlich nicht, sondern ein Werkzeug in seiner Hand. Kein Mordinstrument, sondern ein Werkzeug, das dem Leben dienen soll. Wenn Gott offensichtlich vergeben will, kann der Vizekönig Josef sich nicht in den Weg stellen.
„Bin ich etwa Gott?“ Die rhetorische Frage des Josef schlägt eine Brücke zu der unglaublichen Jesusgeschichte, in der er dem Todesurteil gegen eine Ehebrecherin zustimmen soll. Seine Fatwa, wie man so einen Spruch heute im Islam nennt: Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein. So machen wir´s! Die Bedingung ist den zur Exekution Entschlossenen unerträglich. Einer nach dem anderen geht. Am Ende ist Jesus mit der Frau allein und sagt: „Ich verdamme dich nicht. Geh, und ändere dein Leben.“ Josef und Jesus: offensichtlich Söhne aus einem Haus!