Judica, 13. März 2005
Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist.
(Psalm 43,5)
„Gott loben, das ist unser Amt“ heißt es in einem schönen Gesangbuchlied. Aber den Menschen ist nicht immer danach. Auch nicht dem Menschen, der einst die Worte des 43. Psalms sprach, des Psalms, der zu diesem 5. Sonntag der Passionszeit gehört. Was er durchmacht, lässt das Gotteslob in seinem Herzen verstummen. Gerade weil wir keine Einzelheiten erfahren, können wir unsere eigenen Erfahrungen und Schicksalsschläge an diese Stelle setzen. Die Tage und Stunden, vielleicht auch die Jahre, in denen uns wirklich nicht nach Gotteslob aus vollem Herzen zumute war. Oder auch die Gegenwart, falls es uns gerade heute so geht. Merkwürdig, anrührend, wie dieser zum Gotteslob Unfähige trotzdem an unserem Gott festhält. Heute – nein, da kann ich ihn nicht loben, mich nicht über ihn freuen. Aber es ist nicht aller Tage Abend. Es lohnt sich, in Angst und Not das Band des Glaubens nicht zu zerschneiden. Halte fest an deinem Gott. Denn der Tag wird kommen, an dem du dir seiner Nähe und seiner Hilfe wieder so sicher bist, dass es dir wieder leicht fallen wird, ihn zu loben.
Die Arbeit, die ich als Mitarbeiter der Aktion „Brot für die Welt“ mache, lässt mich bei diesem Stoßgebet unweigerlich an die Menschen denken, die in zahlreichen Ländern um den Indischen Ozean Opfer der Tsunami-Katastrophe vom 2. Weihnachtstag geworden sind. Nur eine Minderheit von ihnen sind Christinnen und Christen, vor allem in Sri Lanka. Aber in der Mehrheit sind es Menschen, die ernsthaft nach dem Weg des Lebens fragen als Hindus, Muslime, Buddhisten – und eben als Christen. Inzwischen haben wir viele Berichte, dass Menschen auch beim Gebet in Kirchen und Moscheen von der Flut überwältigt worden sind. Aber einerlei, ob beim Gebet, auf der Reise, bei der Arbeit, in Urlaubsstimmung: um sie und in ihnen war von einer Minute auf die andere Entsetzen, Todesangst, völlige Hilflosigkeit. Kein Platz, wirklich kein Platz für irgendein Gotteslob, im Namen welcher Religion auch immer.
Die Fassungslosigkeit der Fischersfrau, die plötzlich drei ihrer fünf Kinder vermisst; der Pastor einer asiatischen Gemeinde in den USA auf Heimaturlaub in Sri Lanka, dem die Frau weggerissen wird; das Mädchen im indonesischen Bandar Aceh, dem sage und schreibe 50 Verwandte fehlen. Die Bewohner der Küstendörfer im fernen Somalia an der Küste Ostafrikas, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, als die Welle mit Stunden Verzögerung auch ihre Häuser, Boote und Kinder ins Meer reißt. Sie alle sind Menschen, deren Seele erstarrt angesichts des Unfassbaren, die dann in der Gefahr standen, an der Frage nach dem Warum zu verzweifeln. Ich weiß nicht, was es für einen frommen Muslim bedeutet, in so einer Stunde Inschallah, „wie Allah will“, zu sagen. Wenigstens bekennt er sich dazu, dass auch so ein Tag des Entsetzens kein Tag ohne Gott ist. Aber wie haben die Christinnen und Christen empfunden oder gestammelt bei dem Versuch, ihren Glauben an diesem Tag nicht wegzuwerfen?
Was wir wissen, vielfach bezeugt von den Schauplätzen der Katastrophe, ist, dass viele bald die Kraft fanden, sich aus der Erstarrung zu lösen, Hand anzulegen, das zu tun, was als Erstes zu tun war. Die Hilfe zum Überleben in Gang bringen. Lange bevor, die ersten Helfer aus dem Ausland vor Ort sein konnten. Lange bevor die Millionenbeträge auf die Spendenkonten flossen (bis jetzt reichlich 35 Mio. € auf die Spendenkonten unserer Kirche). Unsere Kirche war dabei nicht zum ersten Mal in einer besonderen Situation, von der ihr wissen solltet. In den Fernsehsendungen sah man immer wieder Rettungsteams vom Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk und vielen anderen Organisationen mit viel Ausrüstung in die Sonderflugzeuge steigen. Mitarbeiter der Diakonie-Katastrophenhilfe oder von „Brot für die Welt“ waren nie zu sehen. Das ist kein Anzeichen für fehlenden Einsatz, sondern eher das Gegenteil. Tausende verdanken ihr Leben an der Küste Südindiens den Zyklonschutzbunkern aus Beton, die dort schon seit vielen Jahren stehen; ermöglicht durch die Zusammenarbeit unserer Kirche mit dem Kirchenbund in Südindien. Nur Stunden nach der Katastrophe war die Südindische Kirche bereits dabei, aus ihren Lagern für den Notfall die wichtigsten Hilfsgüter an die Menschen zu verteilen. Die Kirche Jesu Christi ist eben in aller Herren Länder zu Hause. Die Zusammenarbeit mit uns in Deutschland ist im guten Sinn des Wortes Alltag. Die Kirchen in Sri Lanka und Südindien mussten nicht auf Nothelfer aus Deutschland warten. Selbst im muslimischen Aceh im Norden Sumatras konnte eine Partnerorganisation unserer Diakonie sofort Hand anlegen. Das ist Ökumene konkret, die immer wieder hilft, Menschen zu retten und ihnen den Weg zum Neuanfang zu ebnen.
Der lange Atem ökumenischer Hilfe wirkt nicht nur in der Vorsorge. Er muss sich auch dann bewähren, wenn die sichtbaren Trümmerhaufen beseitigt sind und das letzte Fernsehteam abgereist ist. Denn auf die Erste Hilfe muss Rehabilitation und schließlich die langfristige Hilfe zur Selbsthilfe folgen. Welche Chance haben die Überlebenden des 26. Dezember 2005, in fünf Jahren aus eigener Kraft menschenwürdig zu leben? Solche Fragen sind Teil verantwortungsbewusster Partnerschaft. Zuerst brauchen die Überlebenden einer Fischerfamilie Trinkwasser und Nahrung. Dann stehen Ersatz für Boote und Netze auf der Tagesordnung. Aber schließlich würden auch neue Boote nichts helfen, wenn Bürgerkrieg oder Raubfischerei durch Fabrikschiffe den Fischern die Luft zum Leben abdrückten.
Zur ökumenischen Nothilfe gehören auch ein wachsames Auge und ein offenes Ohr für manche Nachrichten, die sonst im Medienrummel untergehen. Da kommt in den Tagen, als wirklich nur die Flut nachrichtenwürdig ist, aus dem indischen Bombay eine Alarmmeldung bei „Brot für die Welt“ an. Die Stadtregierung versucht offensichtlich, solange die Medien wegsehen, bis zu 200.000 arme Leute aus ihren Siedlungen zu vertreiben. „Unsere Stadt soll schöner werden“ bzw. Baulöwen brauchen Baugrund. Mit der Flut hat das nichts zu tun – oder doch eine ganze Menge! Oder da mehren sich die glaubwürdigen Berichte, dass Kinder in den Flüchtlingslagern organisierter Kriminalität zum Opfer fallen: entführt für kommerziellen Adoptionshandel oder zum sexuellen Missbrauch durch Kinderschänder. Ob arme Leute im Angesicht von Bulldozern oder wehrlose Kinder, wer soll ihr Anwalt sein, wenn nicht die Kirche Jesu Christi?
„Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken.“ Solange der Glaube unsere Gedanken und Hände bewegt, ist das kein windiger Wechsel auf die Zukunft. Die Menschen, die in ihrer äußersten Not wirklich Hilfe erlebt haben, werden eines Tages wieder imstande sein, Gott dafür zu danken. Die einen bringen diesen Dank früher über die Lippen, die anderen später. Und ihr Dank erreicht das Herz Gottes auch im Namen derer, die Gott, wie immer sie ihn nennen, nicht wieder vertrauen können.
Diakonie-Katastrophenhilfe und „Brot für die Welt“, man kann ihren Auftrag auch so beschreiben: Menschen, denen das Gotteslob in der Kehle steckengeblieben ist, so zur Seite zu stehen, dass möglichst viele von ihnen sich eines Tages den Satz des Psalms zu eigen machen können: Ich kann meinem Gott dafür danken, dass er trotz allem „meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist.“