7. Sonntag nach Trinitatis, 25. Juli 2004
Und es murrte die ganze Gemeinde der Israeliten wider Mose und Aaron in der Wüste. Und sie sprachen: Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen. Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, dass ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben lasst. Und der HERR sprach zu Mose: Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden und sollt innewerden, dass ich, der HERR, euer Gott bin. Und am Abend kamen Wachteln herauf und bedeckten das Lager. Und am Morgen lag Tau rings um das Lager. Und als der Tau weg war, siehe, da lag’s in der Wüste rund und klein wie Reif auf der Erde. Und als es die Israeliten sahen, sprachen sie untereinander: Man hu? Denn sie wussten nicht, was es war. Mose aber sprach zu ihnen: Es ist das Brot, das euch der HERR zu essen gegeben hat. Das ist’s aber, was der HERR geboten hat: Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelte. Und die Israeliten taten’s und sammelten, einer viel, der andere wenig. Aber als man’s nachmaß, hatte der nicht darüber, der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter, der wenig gesammelt hatte. Jeder hatte gesammelt, soviel er zum Essen brauchte.
2. Mose 16, 2-3, 11-18
Als Junge im Kindergottesdienst habe ich auf diese Geschichte nicht ganz so reagiert, wie unser Gruppenleiter sich das vorgestellt hatte: vierzig Jahre lange immer dasselbe. Immer nur Manna und Wachteln, Wachteln und Manna. Das ist ja furchtbar. Außerdem hörten wir, dass dies Manna-Zeug süß schmecken soll. Süßes und Geflügel, igitt!
Heute weiß ich, dass es um solche kulinarischen Fragen wohl nicht geht in dieser Geschichte. Außerdem wissen wir alle, dass die ganze Gourmet-Welle, jeden Tag was anderes, wonach mir gerade der Gaumen kitzelt, eine ziemlich junge Erscheinung ist. Wir können´s uns leisten, in diesem Teil der Welt.
Unsere Vorfahren, noch vor wenigen Generationen, hatten einen eng begrenzten Speisezettel. Sogar die Kartoffel in ihren unzähligen Variationen existierte noch jenseits des Ozeans im Unbekannten. Außer Brot und Brei aus verschiedenen Getreidesorten war da nicht allzuviel. Und das Wild in den Wäldern und die Fische in der Elbe hatten sich die Herren weitgehend vorbehalten. Immerhin bin ich gerade alt genug, um mich an abgezählte Brotschnitten in den ersten Nachkriegsjahren erinnern zu können.
Nein, die Menschen Israels, die eine Hungerrevolte gegen Mose beginnen, beschweren sich nicht über die Eintönigkeit ihres Essens. Sie beklagen, so nennen wir das heute, die verloren gegangene Ernährungssicherheit. In der Unfreiheit, in Ägypten besaßen sie die. Denn die Zwangsarbeitsverwaltung des Pharao unterschied sich offenbar von der der SS. Die beutete den letzten Funken Arbeitskraft ihrer Sklaven aus, bis sie verhungert waren. In Ägypten erhielt man sich die Arbeitskraft der Unfreien, indem man sie ausreichend ernährte. Und in ihren Suppen schwamm auch immer wieder etwas Fleisch. Im Nildelta gediehen die Rinder schließlich in Massen.
Der Hunger, schon die Angst vor dem Hunger, verändert die Menschen. Denn zur Nahrung gibt es keine Alternative. Vergessen ist das Hochgefühl der Befreiung. Wenn die eigenen Kinder hungern, dann muss an der Sache etwas faul sein, dann kann es so nicht weitergehen. Stünde dieser Gott wirklich auf ihrer Seite, könnte er den Hungertod in der Wüste nicht zulassen. „Hätte Gott uns doch in Ägypten sterben lassen…“
In der ganzen Geschichte der Wüstenwanderung wird der Widerspruch des Volkes gegen die Führungsentscheidungen des Mose viele Male kritisch kommentiert. Und was Mose entscheidet, das entscheidet er als Werkzeug Gottes. Aber diesmal bleibt der Tadel aus. Irgendwie haben die Menschen recht. Und deshalb folgt der Klage die Rettung auf dem Fuße. Die Gegenwart Gottes bei seinem Volk bewährt sich jetzt im alltäglichen Überlebenskampf.
Israels Menschen entdecken, dass auch die karge Landschaft der Sinai-Halbinsel Nahrung bereithält: ihre Augen werden geöffnet für die Schwärme erschöpfter Wachteln, die sich abends zur Rast niederlassen. Und sie entdecken eine Speise, die man auch heute noch probieren kann. Das sind die süßlichen Ausscheidungsprodukte von Blattläusen, die auf bestimmten Büschen der Halbwüste leben. Manna heißt dieses Wüstenbrot bis heute. Natürlich ist das nicht der ganze Speisezettel. Schließlich führen die Stämme ihre Herden mit sich. Und sie entdecken im Laufe der Zeit noch vieles andere, was zum Überleben hilft – nicht zuletzt das Lebensmittel Nr. 1, Wasser.
Trotzdem: die Tage, da Israel Manna und Wachteln entdeckt, sind entscheidend für seine Glaubensgeschichte. Denn sie entdecken nicht nur neue, bislang ungewohnte Nahrungsquellen. Sie entdecken: dieser Gott lässt uns nicht im Stich; dieses Land lässt uns nicht im Stich. Hier gibt es eine Zukunft. Es war doch kein Fehler, die sichere Unfreiheit gegen die ungewisse Freiheit zu tauschen.
Ich bin überzeugt, dass die Erfahrung der vom Hunger bedrohten Israeliten stellvertretend steht für alle Menschen. Wir alle müssen dem Land vertrauen können, in dem wir leben. Es muss uns über den Tag hinaus ernähren, versorgen mit allem, was wir zum Leben brauchen.
Selbst in den zu 110% durchorganisierten Pauschalurlaub an fernen Stränden begleitet uns die bange Frage: „Werden wir das Essen vertragen?“ Ein Schild mit dem Wort „Schnitzel“ vor irgend einem Lokal in fernen Ländern ist immer eine lohnende Werbemaßnahme. Da weiß der unsichere Magdeburger in der Ferne, was er hat.
Aber für Millionen von Menschen ging und geht es nicht um derart läppische Urlaubsängste. Sie kommen in unbekannte Länder nicht im Urlaub, sondern um zu überleben: die Flüchtlinge vor Krieg und Gewaltherrschaft. Dem Untergang fürs Erste entkommen. Aber was kommt dann? Es hat lange gedauert, bis die Flüchtlinge nach 1945 sich darauf zu verlassen lernten, dass die unbekannte Umgebung Manna und Wachteln bereit hielt. „Man hu?“ auf deutsch etwa: Was ist das? Wie geht das hier weiter? Die sorgenvolle Frage entwurzelter Menschen.
Anders als die deutschen Flüchtlinge von damals haben ungezählte Flüchtlinge unserer Zeit eine Zuflucht mit Manna und Wachteln längst noch nicht gefunden. Oder die Abermillionen, die heute die Heimat verlassen auf der Suche nach Arbeit, bei uns und in aller Welt. Von zu Hause weggehen ist eine Sache. Die Fragen „Was wird nun werden? Werde ich finden, wonach ich suche?“ sind eine andere. Manna und Wachteln, das ist in unserer heutigen Welt natürlich zuerst die Hoffnung auf die Arbeit oder das Stück sozialer Sicherheit, ohne die ich nicht auskomme.
Wachteln fangen und Manna sammeln, das ist eine Angelegenheit des Lernens und der Erfahrung. Ob dabei auch das Vertrauen auf Gott stärker wird, ist offenbar eine Frage von Genug und Überfluss. „Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht,“ lautet die Anweisung des Mose. Jeden Tag von neuem. Jeden neuen Tag im Vertrauen, dass Gottes Erde auch heute hergibt, was wir brauchen. Der Versuch, die Versuchung, Überschüsse zu horten, misslingt in der Wüste Sinai. Alle die sich einbilden, ein Polster geschaffen zu haben, entdecken beim Nachmessen, dass sie sich getäuscht haben. An einer anderen Stelle der Manna-Überlieferung heißt es drastischer, dass die Überschüsse voller Maden waren und erbärmlich stanken.
Das ist, bin ich überzeugt, das spirituelle Problem unserer so beliebten Erntedankfeste. Wir haben es seit Jahrzehnten nicht mehr nötig, im Sinne der Manna-Geschichte, Tag für Tag das Nötige zu sammeln. Bei der Nahrung angefangen, ist es unser selbstverständliches Recht, dass das Lebensnotwendige zur Verfügung steht. Mag sein, das manche von uns heute eine neue Ungewissheit beschleicht. Aber eigentlich haben wir in unserer Marktwirtschaft sowas nicht nötig. Schließlich wetteifern die Völker der Welt immer noch darum, unsere Supermärkte zu füllen und unsere Reiseträume zu erfüllen.
Wieviel von dem, was wir ansammeln, wird faul und fängt an zu stinken? Trägheit von Körpern und Seelen, Einsamkeit inmitten einer Überfülle von Kommunikationsmitteln, Leere im Herzen, dort wo das Vertrauen zu Gott seinen Platz haben sollte. Ja, ich glaube, unser Teil der Manna-Geschichte ist jener vom Gebot, vom Segen des richtigen Maßes. Was brauche ich wirklich? Worum muss ich mich sorgen? Wofür muss ich arbeiten? Woran kann ich mich freuen? Worauf soll ich mich verlassen?
Keine Frage, diese Manna-Geschichte wird in verschiedenen Teilen der Welt von Menschen in verschiedener Lebenswirklichkeit verschieden gelesen. Ganz gewiss werden Menschen, die heute hungern und dürsten nach Brot und nach Gerechtigkeit, sich zuerst an das ganz handfeste Versprechen halten: das Volk Gottes wird nicht Hungers sterben. An die Stelle der Wachtelschwärme mag eine erfolgreich durchgesetzte Landreform treten. Statt auf Manna mögen die Menschen setzen auf einen gelungenen Kampf um gesetzliche Mindestlöhne. Der Hunger angesichts bestens gefüllter Lebensmittelgeschäfte ist in unserer Welt ja sehr viel häufiger und typischer als der Hunger angesichts zeitweiser Knappheit. Landreform, ausreichender Arbeitslohn, das passt zu der Zuverlässigkeit der Fürsorge Gottes, auf die die Erzählung so großen Wert legt.
Und daneben stehen wir eher in der Versuchung, zu viel zu horten, was dann doch verdirbt. Was uns verbindet? In der weltweiten Kirche, dem weltweiten Volk Gottes, haben wir beide unsere Heimat. Dort können wir den Glauben teilen – und auch Manna und Wachteln. Denn was wir teilen, verfault nicht.
Wenn Gott nicht mit uns zieht, wie mit Israel, können wir nichts tun – weder hüben noch drüben. Aber gegen diese Sorge steht Jesu Versprechen: „Ich bin bei euch alle Tage, bis an das Ende dieser Zeit.“