Septuagesimae, 16. Februar 2014
Evangelische Gottesdienste sind wortlastig. Deshalb kommt diese Frage bei der Planung meist zuletzt: Und was singen wir? In 50 Jahren habe ich mich das ein paar tausend mal gefragt, manchmal unter arger Zeitnot. Da wäre ich ohne diesen Mann ganz schön aufgeschmissen gewesen. Denn vieles im Kirchengesangbuch enthält mir einfach zuviel dichterischen Süßstoff. Ich sage nur „Stille Nacht“! Oder da klirren allerlei geistliche Schwerter in angedeuteten heiligen Kriegen. Die Monarchie als Gottes- oder Jesusbild schmeckt mir auch nicht.
Ja, wäre da nicht dieser Mann: Paul Gerhardt, 1607-1676, noch Zeitgenosse des Dreißigjährigen Krieges, dem als Trauma für Generationen erst die Weltkriege des 20. Jahrhunderts gleich kamen. Im Gesangbuch etwa auf dem Tabellenplatz, den Geheimrat von Goethe in der deutschen Gesamtliteratur einnimmt. Nur, dass meine Liebe zu dem Werk des Gastwirtssohnes mit der eher bescheidenen Theologenkarriere spontan ist, anders als im Fall des „Dichterfürsten“.
Lebensbejahender Glaube; frische, uns Sängerinnen und Sänger mitnehmende Bilder, kaum je trennende Dogmatik und eine Sprache, die in dreieinhalb Jahrhunderten keinen Rost angesetzt hat. BILD-Leser können, wenn ihnen danach ist, ohne weiteres Paul Gerhardt mitsingen, viel zu viele andere Gesangbuchlieder nicht.
Und manchmal traut sich Paul Gerhardt richtig was. Wie in dieser Liedstrophe aus „Geh aus mein Herz und suche Freud“, einem Kirchenlied, das es zum Volkslied gebracht hat.
Mach
in mir deinem Geiste Raum,
daß ich dir werd ein guter Baum
und
lass mich Wurzel treiben.
Verleihe, daß zu deinem Ruhm
ich
deines Gartens schöne Blum
und Pflanze möge bleiben.
Du und ich: von wegen Krone der Schöpfung! Meilenweit erhoben über alle Mitgeschöpfe! In evangelikal befangenen Teilen der heutigen Christenheit militant abgekoppelt von allen Gewissheiten über das vergangene und andauernde Geschehen der Evolution. Der Mensch nicht in, sondern haushoch über der Schöpfung, mit allen verheerenden Sonderrechten, die er sich auf Grundlage dieser Positionsbeschreibung zubilligt.
Zur Mitte des 17. Jahrhundert, immerhin hundert Jahre nach Galileo Galilei, in einem Zeitalter, das die Schöpfung in neuer Freiheit durchdringen will, hier ein Glaubensbild, das uns ganz tief in der Schöpfung beheimatet – statt sie zur Disposition zu stellen.
„Mach in mir deinem Geiste Raum“. Die Bitte ist so ungewöhnlich nicht. Künstler mögen sich vielleicht eher nach dem „Göttlichen Funken“ sehnen; Erfinder nach dem „Geistesblitz“. Aber in der Regel geht es um eine von schöpferischen Menschen bewirkte Bereicherung der Menschenwelt, ob durch ein Kunstwerk, die Erfindung der segensreichen Waschmaschine oder einen Fortschritt bei der Durchsetzung von Menschenrechten.
Paul Gerhardt bittet in unserem Namen um Anteil an Gottes Geist, damit eine Metamorphose möglich wird – die zum Baum. Ein Kerl, wie ein Baum, das ist eine vertraute Floskel. Und allzu oft heißt es dann im gleichen Atemzug, dass er gefällt worden sei; im eher harmlosen Fall durch den Kampfsport-Trick eines schmächtigen Bürschleins. Wenn´s tragischer ausgeht, dann durch eine Pistolenkugel.
Paul Gerhardt meint aber ein gelingendes, dem Leitbild des Baumes folgendes Menschenleben, das genau so dem Schöpferwillen gemäß ist. Er sucht den Ort der Geborgenheit nicht oben über der Welt der Geschöpfe, sondern tiefer in ihrem Grund.
Ich denke, wir wissen, dass er damit auf elementare Art und Weise recht hat. Die Pflanzen sind Pioniere und Grundlage des Lebens aller Tiere, unsere Art eingeschlossen. Langlebiger als viele Bäume sind nur die gleichsam unsterblichen durch unablässige Teilung fortlebenden Einzeller. Ohne den Sauerstoff der Bäume würden wir nicht ersticken – es gäbe uns gar nicht.
All das haben unsere biblischen Vorfahren im naturwissenschaftlichen Sinn nicht gewusst, und sie haben es als Teil der Wirklichkeit doch gewusst. Ich weiß nicht recht, was mich mehr anrührt: das theologisch so schwergewichtige Bild von den beiden Paradiesbäumen, dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen und dem Baum des – ewigen – Lebens, dessen Früchte dem Menschen unbedingt verwehrt bleiben sollen; oder das eher beiläufige Bild von dem Obstbaum am Bach aus dem 1. Psalm, ein Bild für gelingendes Menschenleben. Es ist wohl doch das zweite. Und das scheint Paul Gerhardt auch im Sinn gehabt zu haben.
Der Schöpfergeist, Gottes Lebensatem, ist kompatibel mit unserer menschlichen Existenz. Das ist eines der ersten Statements der Bibel. Und, deutet Paul Gerhardt, – wie viele vor ihm, nur halt besonders schön und auf deutsch – er lässt Wurzeln wachsen. Standfestigkeit, seelische Ernährungssicherheit in einem Leben, das mehr denn je Mobilität verlangt, buchstäblich wie im übertragenen Sinn.
Wobei ich es nicht lassen kann, bei der Bitte um starke Wurzeln an die Bäume zu denken, die mit unschöner Regelmäßigkeit bei Straßenbaumaßnahmen an ihrem Wurzelwerk malträtiert werden – bis hin zum endgültigen Siechtum.
Landpfarrer Gerhardt wird 1653 im Dorf Mittenwalde bei Königs Wusterhausen, als ihm „Geh aus mein Herz und suche Freud“ geschenkt wurde, mit Sicherheit keinen Stadtpark mit Bäumen zum Angucken im Sinn gehabt haben. Selbst Berlin, wo er vorher amtierte, war kurz nach dem Krieg ein elendes Kaff mit 5.000 Überlebenden. Nein, er hat wie schon die Schöpfungsgeschichten der Bibel den menschlichen Zuchtbemühungen unterliegenden Fruchtbaum vor Augen. Der unterliegt damit, wie auch Jesus mehrfach gerade heraus feststellt, menschlichem Ermessen und Urteil. Wenn die Ernte ausgefallen ist, dann pflegt den Baum, grabt um, düngt und wartet ab, hören wir ihn sagen. Und dabei spricht er natürlich vom Ertrag eines Menschenlebens. Letzten Endes gilt: ein Baum ohne Früchte muss seinen Platz frei machen. Diese Perspektive lässt sich nicht löschen wie eine unerwünschte Werbe-Email. Aber gute Wurzeln sind die beste Risikoversicherung.
In einem Zeitalter, als noch keine Bananendampfer um den Erdball schipperten und niemand die Apfelsinen über die Alpen werfen konnte, waren die Fruchtbäume für das Wohlergehen unserer Vorfahren eine ziemlich ernsthafte Angelegenheit. So muss auch Paul Gerhardt sie gesehen haben.
Umso mehr gefällt mir, wie er in den letzten beiden Zeilen der Liedstrophe die ernste Besorgnis um das alltägliche Wohlergehen seiner Christenmenschen fallen lässt. Eine schöne Blume in Gottes Garten zu sein, das reicht ihm. Das macht Sinn genug. Und hilft ganz nebenbei den Bienen und Hummeln, die Pfarrer Gerhardt offenbar deutlich besser verstanden hat als unsere industrialisierte Landwirtschaft samt der EU-Administration, siehe Vers sechs.