Sprachverwirrung und Sprachenwunder


Pfingsten 30. Mai 2004


Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.

Genesis 11, 1-9


Mein nächstes Enkelkind, das noch ungeboren ist, wird es diesbezüglich wohl leichter haben als ich. Mutter Peruanerin, Vater Deutscher. Da darf man hoffen, dass das Küken die ersten beiden Sprachen seines Bildungsweges ohne große Mühe aus der Luft fischen wird. Ansonsten kann Sprachen lernen zu müssen zum wahren Kreuz werden – auch ein Grund, warum diese großartige Geschichte vom Turmbau zu Babel so populär ist – weit über die Kreise von Bibellesern hinaus.

Der Turmbau zu Babel: gewissermaßen der dunkle Hintergrund, vor dem die Pfingstgeschichte umso heller leuchtet. Sicher auch eine Geschichte, die mit den unheimlichen Gefühlen nomadisierender israelitischer Hirten angesichts der Weltstädte ihrer Zeit zu tun hat. Sich einen Namen machen, dem Vergessenwerden entkommen durch die Weltwunder, die man der Nachwelt hinterlässt: ungezählte Male und zu allen Zeiten war und ist das ein Motiv für die Großprojekte der Mächtigen und Reichen. Und wir einfachen Leute sonnen uns gern ein bisschen mit im Glanz der atemberaubenden Schaustücke. „Der Dom zu Magdeburg oder der Jahrtausendturm: kommt nach Magdeburg und schaut sie euch an!“ Bis an den Himmel, also durch die normal-menschliche Brille gesehen bis dahin, wohin die Wolken gelegentlich sinken, reichen unsere Rekord-Wolkenkratzer längst. Aber am 11. September 2001 hat kein zorniger Gott vom Himmel zugeschlagen, sondern menschlicher Hass und Wahnsinn. Gott beurteilt – ich denke da können wir sicher sein – unsere Bauvorhaben nicht nach ihrem Format, sondern nach ihrem Zweck. Eine kleine Folterkammer ist in seinen Augen verwerflicher als Hochhaus, auch wenn es potthässlich sein sollte. Die innere Stimme Gottes sorgt sich folglich auch nicht um die Großbaustelle, sondern um die Herzen der Menschen: „Das ist erst der Anfang. Nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von dem, was sie sich vornehmen.“ Dieselbe Sorge wie schon in der Paradiesgeschichte. Der Mensch, der gegen Gottes Willen vom Baum der Erkenntnis isst und danach allein entscheiden will, was Gut und was Böse ist. Nicht Groß oder Klein ist das Problem – sondern Gut oder Böse, im Maß oder maßlos. Wes Geistes Kinder wollen diese Menschen sein? Wenn alle Menschen unter einem Befehl stehen, einem von Menschen gesetzten Ziel dienstbar gemacht werden, dann ist das Leben in Gefahr. Eine globalisierte Weltwirtschaft, die letzten Endes keinem anderen Ziel folgt, als die Bilanzen der Gewinner noch glänzender zu machen, solch ein Projekt ist nicht weit von Babel entfernt: alle Menschen sollen oder müssen ihm dienen. Erfolg und Ruhm den Gewinnern – und jeder ist in diesem Spiel des eigenen Glückes Schmied.

Welches Format haben solche menschlichen Megaprojekte in den Augen Gottes? Die Jahrtausende alte Geschichte macht das unnachahmlich klar: „Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten.“ Die Sache ist zu winzig, als dass sie vom Thron Gottes aus klar zu erkennen ist. Gott muss sich hinbemühen, gewissermaßen die Lupe zur Hand nehmen. Wenn irgendwo Ironie in biblischen Texten im Spiel ist, dann hier. Wer sich im eigenen Leben an den Gott hält, den Jesus bezeugt, der gewinnt durch dies Bild vom Gott, der die Lupe zur Hand nehmen muss, das nötige Stück innerer Freiheit gegenüber allen menschlichen Allmachtsphantasien.

So zerstreut sich also die Belegschaft der Großbaustelle Babel in alle Welt und verliert sich aus dem Blick. Das ist die Strafe, wurde mir im Kindergottesdienst erklärt. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ist das wirklich eine Strafe Gottes oder eine Schutzmaßnahme? Gott zerschlägt dieses Monopol und schützt damit den Menschen vor sich selbst. So kann man es auch sehen – ehrlich gesagt, so sehe ich es. Denn wenn immer die Mächtigen der Geschichte seither versucht haben, möglichst alle Menschen unter eine Idee, einen Befehl, eine Herrschaft zu pressen, ist Unheil daraus entstanden – allen großen Worten zum Trotz. Und auch dann, wenn die Kirche in ihrer Geschichte das Reich Jesu mit den Reichen dieser Welt verwechselt hat, ist entsetzlich viel Blut geflossen und Schuld offenbar geworden.

Darum ist das pfingstliche Sprachenwunder auch nicht einfach die Rückkehr nach Babel. Der Kernsatz der Pfingst-Geschichte lautet: „Hören wir sie nicht in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden?“ Kein Weltherrscher, überhaupt kein Mensch verschafft sich hier Gehör und Macht über Menschenherzen. Der barmherzige Gott, der Gott für die Mühseligen und Beladenen, der Gott, der für uns da ist, will, dass alle Menschen seine Einladung verstehen. Jesu Wunsch, dass seine Jüngerinnen und Jünger, die Trägerinnen und Träger der Guten Nachricht sich untereinander erkennen und verstehen, geht in Erfüllung. Jesus will ihnen die Angst nehmen vor den vielfältigen Barrieren, die Menschen voneinander trennen.

Dabei trennen ja nicht nur uns unbekannte Fremdsprachen. Das Deutsch, das Mitmenschen sprechen, ist beileibe keine Garantie dafür, dass wir einander verstehen. Der verzweifelte Satz: „Du verstehst mich nicht“ hat nichts zu tun mit deutschem Wortschatz und Grammatik, sondern mit der Begriffsstutzigkeit des Herzens. Dass Gottes Geist unsere Sprachlosigkeit füreinander zu überwinden verspricht, ist der nächstliegende Teil des Pfingstwunders. Das spezielle Verstehen über tatsächliche Sprachgrenzen hinweg kann man freilich in der weltweiten Kirche unserer klein gewordenen Welt auch hin und wieder erleben. Ich erinnere mich, wie philippinische Nonnen zu Zeiten der Diktatur eine natürlich nicht genehmigte Demonstration planten, um an das Schicksal Tausender von Gewissensgefangenen zu erinnern. Dabei würden sie auf die Straßensperren schussbereiten Militärs treffen. Ich war Zeuge und verstand kein Wort Talalog (so heißt die Sprache, die sie untereinander sprachen). Aber natürlich habe ich genau verstanden, was diese Christinnen taten, als sie sich vor dem Aufbruch zum Gebet in einen großen Kreis stellten. Dies Gebet zu Jesus war offensichtlich die Quelle der Ruhe und sichtbaren Furchtlosigkeit, mit der sie dann unseren Demonstrationszug anführten. Es war eine Erfahrung mit den speziellen Sprachkenntnissen des Glaubens. Sie hat sich für mich an ganz verschiedenen Orten und in ganz verschiedenen Konflikten unserer Zeit wiederholt: Du verstehst ohne Fremdsprachenkenntnisse, und dein Glaube bekommt Flügel.

Deshalb ist es für unsere evangelischen Gemeinden in Ostdeutschland mit ihrer großen Geschichte und ihrer kleinen Kraft so ungeheuer wichtig, dass wir verstehen, was heute in der Weltkirche von den großen Taten Gottes geredet wird. Sie überschüttet uns ja förmlich mit Beweisen dafür, dass das Evangelium nicht am Ende ist, bloß weil unsere Kirche unter ihrer Schwäche leidet. Der Name Jesu bewegt heute mehr junge Menschen zu Taten des Glaubens und der Hoffnung als je zuvor. Wir bekommen es nur nicht mit, solange wir nur Evangelisch verstehen wollen oder gar nur Diesdorfisch.

Das ist das Eigeninteresse unseres Glaubens an ökumenischen Partnerschaften aller Art, dass wir hören und verstehen, was der Geist Jesu rund um den Erdball heute in Bewegung setzt: die großen Taten Gottes in unserer Zeit. Lassen wir uns anstecken, so wie die Jerusalem-Pilger aus aller Herren Länder sich anstecken ließen. Was sie erlebten, brachte sie aus der Ruhe. So würde es wohl auch uns ergehen. Ja, es kann durchaus passieren, dass man auch uns für unzurechnungsfähig, für besoffen von unserem Glauben hält. Das passiert sogar ziemlich schnell, wenn Christen und Kirchen im Namen Jesu den Mächten von Babel widersprechen. Aber die Gewissheit, bei den großen Taten Gottes in unserer Zeit ein ganz kleines bisschen mitzuhelfen, ist es wert.

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