Taubstumm

12. Sonntag nach Trinitatis, 7. September 2014

Und als er wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege. Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata! das heißt: Tu dich auf! Und sogleich taten sich seine Ohren auf und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, sie sollten es niemandem sagen. Je mehr er’s aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

(Markus 7, 31-37)

Vor 55 Jahren, im Theologiestudium, da war das noch ein heißes Eisen: Gibt es so was tatsächlich? Dass da einer mit ein paar magischen Manipulationen einen mehrfach Schwerbehinderten heilt und in ein normales Erwachsenenleben entlässt? Die bibelwissenschaftlichen Kommentare, aber auch allerlei Broschüren für die Hand des „normalen“ Christenmenschen boten reichlich Pro und Contra. Unsere akademischen Lehrer sprachen uns als angehende Prediger ausdrücklich frei von der Verpflichtung, solche Wundergeschichten wörtlich nehmen zu müssen. Das Leitwort der Bibelwissenschaften hieß „Entmythologisierung“. Heute, da das menschheitsgeschichtlich so entscheidende 21. Jahrhundert voll ins Rollen gekommen ist, haben die dramatischen Dispute von damals für mich ihre Bedeutung verloren. Ich weiß längst, dass unser Gott mit uns in der Bibel über Sinn und Ziel unseres Lebens spricht, uns Mut und Hoffnung schenkt und dass einfache naturwissenschaftliche Fragen andere Adressaten haben. Ich weiß freilich auch, dass Menschen zu jeder Zeit die unglaublichsten Befreiungsgeschichten aus den körperlichen und sozialen Gefängnissen schlimmer Krankheiten erleben. Jesus gehörte ohne jeden Zweifel zu diesen gesegneten Befreiern. Also was soll´s?

Die Vorgeschichte des Taubstummen erleben wir Zeitgenossinnen und Zeitgenossen kaum noch mit; einfach weil sehr viele Schwerbehinderte der besseren Pflege wegen längst in Anstalten wie etwa Bethel leben. Bethel war mein erster kirchlicher Arbeitsplatz, und es hieß auch ganz offiziell „Anstalt“. Ansonsten war Bethel toll. Auch wenn die Zusammenballung Schwerbehinderter etwas Unnatürliches behält – zwangsläufig. Taubstumme, wobei sich die zweite Behinderung häufig, aber nicht immer, aus der ersten ergibt, lebten auch Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht mehr viele in Bethel. Ihre Integration in den gesellschaftlichen Alltag war auch damals schon das Ziel. Und wer heute im Bus Zeuge des lautlosen Geschnatters einer Gruppe Gehörloser in Gebärdensprache wird, mag sich vorstellen, wie diese temperamentvollen Sätze durch den ganzen Wagen schallen würden, wenn Stimmbänder und Kehlkopf mitspielen würden.

Eine unbarmherzig stumme Welt? Keine vertrauten, schönen oder dramatischen Geräusche? Keine Stimmen, die ich liebe, die ich unbedingt wieder hören möchte, keine Musik – solange es nicht dieses Zeug ist, bei dem ich mir die Ohren zustopfen möchte? Und dann: mit meiner eigenen Stimme nicht am Leben teilnehmen können? Keine Liebeserklärung, keine Frage, keine Auseinandersetzung, kein Lied? Die Biologie lehrt mich, dass wir viele Mitgeschöpfe haben, die wegen schwacher Augen noch viel mehr als wir auf Gehör und Stimme angewiesen sind. Aber an den äußersten Rand der Gemeinschaft drückt dich dieses Schicksal schon. Das wichtigste verbleibende Guthaben dieses Schwerbehinderten bleibt die Hilfsbereitschaft der Nachbarinnen und Nachbarn. Das zeigt sich immer wieder in den Jesusgeschichten. Die Männer, die ihren gelähmten Freund unter Inkaufnahme schwerer Sachbeschädigung durch ein Loch im Flachdach Jesus vor die Füße legen – sie sind nur die Prominentesten einer ganzen Kolonne mitfühlender Leute. So auch hier. Der Taubstumme wird einfach abgeschleppt und zu Jesus gebracht. Liebe Schwestern und Brüder, in diesem Sinn notleidende Menschen aus dem Dunkel, der Anonymität, ans Licht holen und zu Jesus bringen, das sollte ein naheliegendes Programm sein für diese Gemeinde und unsere ganze Kirche. Nichts ist naheliegender!

Auch diesmal ist es nicht die Erwartungshaltung des Behinderten sondern das Vertrauen seiner Nachbarn, das Jesus antreibt. Er legt buchstäblich Hand an den Kranken, auch mit der eigenen Spucke. Und dann legt er dieses Leben mit seiner Last in Gottes barmherzige Hand: „Hefata“. Dieser Ein-Wort-Satz lebt fort als Name mehrerer Einrichtungen unserer Diakonie, in Bethel und anderenorts. „Hefata“ ist keine Zauberformel à la Simsalabim, sondern ein vernünftiger Satz in der aramäischen Muttersprache Jesu, den alle Umstehenden verstanden haben: „Tu dich auf!“

Und Jesu Schweigegebot an die Augen- und Ohrenzeugen der Heilung scheitert wieder einmal an der Lebensregel, dass der Mund übergeht von dem, wovon das Herz voll ist. Auch wo Christenmenschen und ihre Hilfswerke heute das anpacken, womit die Welt sich längst abgefunden hat, kehrt dieses Staunen zurück: Mit dem Mut ihres Glaubens haben sie es gut gemacht, Versöhnung gestiftet, Hunger gestillt, Tyrannen widersprochen, den Sprachlosen eine Stimme gegeben. Kein Satz nur über Christen, beileibe nicht, aber auch über Unseresgleichen. Soweit die Dreiecksgeschichte zwischen dem Schwerbehinderten, seinen mitfühlenden Nachbarn und Jesus – samt einigen deutenden Zutaten, die für den Evangelisten Markus typisch sind.

Aber Jesusgeschichten haben die Eigenschaft, sich immer wieder selbstständig zu machen, über die einfache Erzählung hinaus. Und dann erzählen sie dir und mir auf einmal Geschichten, die nur für dich oder mich bestimmt sind; die zunächst einmal niemand sonst hören kann, solange ich nicht darüber rede. Mit mir redet die Geschichte vom Taubstummen darüber, dass ich mit diesem Gottesdienst die letzte regelmäßige Predigtverpflichtung meiner Pastorenjahre beende, seit dem ersten Versuch 1960 in der Universitätskirche von Münster. Die Leute, die mir all die Jahre in einer dreistelligen Zahl von Kirchen zugehört haben, haben mir hin und wieder gesagt, dass sie sich nicht gelangweilt hätten. Und ich habe später mit einem gewissen Schuss Arroganz meinen jüngeren Amtsgeschwistern manches Mal gesagt, das 11. Pastorengebot würde lauten: „Du sollst nicht langweilen!“ Aber ich bin mir ganz sicher: das ist alles Schall und Rauch! Gäbe es so etwas wie eine unparteiische Evaluierung lebenslanger Predigerarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland, das Ergebnis müsste wohl lauten: taubstumm, außen Nuss, innen taub. Ich bin nicht vergesslich genug, um heute ausblenden zu können, dass ich mein gerütteltes Maß Anteil hatte an dem Verfalls- und Auflösungsprozess unserer Kirche seit der Nazizeit, nach 1945. Persönliche Pflichterfüllung oder Faulheit haben damit offensichtlich nicht viel zu tun. Wir, auch ich selber, haben offensichtlich über mehrere Generationen in Deutschland nicht gehört, was wir hätten hören müssen. 1994, nach den Völkermord-Massakern in ihren Kirchen haben die Protestanten im afrikanischen Ruanda ernsthaft überlegt, ihre Kirchen aufzulösen und bei Null wieder anzufangen. Eine solche Fragestellung ist mir nach Auschwitz aus dem Mund deutscher Kirchenleute nicht bekannt geworden – obwohl ich als Landessynodaler meiner Heimatkirche all diese furchtbaren Ergebenheitsadressen an das Mordregime in Händen gehalten habe, die es nie hätte geben dürfen.

Deshalb, und wegen voraufgegangener und nachfolgender Lebenslügen, haben wir als Kirchen (wenigstens im Westen) nicht die Worte bzw. die Botschaft proklamieren können, die die Herzen der Nachgeborenen hätten bewegen können, die unsere Kirche wirklich zur liebevollen und ehrlichen Helferin der Menschen gemacht hätte. Und diese Zeit lähmender Taubstummheit scheint noch nicht Vergangenheit zu sein. Ich konnte sie auch in den Jahren als Helfer eurer Gemeinde nicht überhören. Ich habe Episoden aufbrechender Gemeinden miterlebt, ja – aber es waren Episoden und wahrlich wurde da mit Wasser gekocht, aber letzteres ist gewiss der Normalfall. Ich erkenne unter uns noch nicht die Kirche nach einem neuen „Hefata“ Christi. Ob es die Kirche in ihren heutigen Outfit sein kann, die wider besseres Wissen von dem aufwändig organisierten Reformationsjubiläum 2017 eine Belebung erhofft? Ich weiß es nicht. Nicht jeder Taubstumme lässt sich von wohlmeinenden Nachbarn zu Jesus schleppen. Er hilft sich lieber selbst, recht und schlecht.

So gebe ich eurer Gemeinde meinen Helferauftrag zurück mit dem Wunsch und der Fürbitte, dass auch für uns die Erfahrung eines „Hefata“ nicht mehr fern ist. Christus handelt dabei ja im eigenen Interesse. Er braucht euch, frei von alten Lasten, so begeistert von den Hoffnungen auf Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, dass ein Schweigegebot Jesu euch nicht bremsen könnte.