Letzter Sonntag nach Epiphanias, 1. Februar 2009
Und zu Mose sprach er: Steig herauf zum HERRN, du und Aaron, Nadab und Abihu und siebzig von den Ältesten Israels, und betet an von ferne. Aber Mose allein nahe sich zum HERRN und lasse jene sich nicht nahen und das Volk komme auch nicht mit ihm herauf. Da stiegen Mose und Aaron, Nadab und Abihu und siebzig von den Ältesten Israels hinauf und sahen den Gott Israels. Unter seinen Füßen war es wie eine Fläche von Saphir und wie der Himmel, wenn es klar ist. Und er reckte seine Hand nicht aus wider die Edlen Israels. Und als sie Gott geschaut hatten, aßen und tranken sie.
2. Mose 24, 1-2; 9-11
Wir Evangelischen tun uns immer etwas schwerer mit heiligen Orten als wohlerzogene Katholiken. Das habe ich wieder gespürt beim Besuch des Mailänder Doms während eines Italien-Urlaubs im letzten Jahr. Da waren ein halbes Dutzend Türwächter mit nichts anderem beschäftigt als mit der Eingangskontrolle der Besucher, die allermeisten von ihnen Touristen wie meine Frau und ich. An uns älteren Leuten gab es nichts auszusetzen. Aber die junge Frau ein paar Meter vor uns wurde unmissverständlich zurückgewiesen. Nicht wegen des Babys, das sie in einem leichten Kinderwagen vor sich herschob. Der Domwächter reagierte auf den Protest der Mutter mit einem unverblümten Fingerzeig auf ihre Bluse. Die war nicht hoch geschlossen, halt mit einem normalen Ausschnitt für warmes Sommerwetter. Wäre ich des Italienischen mächtig gewesen, ich hätte mich wohl eingemischt. So drehte die junge Frau zornig wieder um, und mir war die Freude am Dombesuch vergangen.
Da war es wieder, das fröstelnde Erlebnis aus meinen Kindertagen in der katholischen Pfarrkirche des Dorfes, in dem wir evangelischen Flüchtlinge untergebracht waren. Die Lehrer und der katholische Kaplan, dessen Religionsunterricht wir mitbekamen, mussten den Flüchtlingskindern erst mal beibringen, wie man sich in St. Ludger benimmt. Weihwasserbecken am Eingang, sich bekreuzigen, Kniefall – wir hatten ja keine Ahnung. Andererseits, raushalten aus dem heiligen Ort konnte man uns auch schlecht. Dorfkirchen waren seinerzeit eben rund um die Uhr offen. Ob extra für uns Fremde oder als Teil der Frömmigkeitserziehung für alle, kann ich nicht mehr sagen: aber in der Schule hörten wir schaurige Geschichten, von gelähmten Händen und plötzlichen Erblindungen bei Kindern, die sich in der Kirche unziemlich benommen hatten. Eine absolute Todsünde war es, dass ein ungezogener Bengel mal eine Hostie mutwillig auf den Boden gespuckt haben soll. Mit ihm hat es, wie wir ermahnt wurden, ein schlimmes Ende genommen. Ob Kleiderkontrolle am Mailänder Dom oder Einschüchterung Achtjähriger: will man es einigermaßen zum Guten wenden, wird man sagen, Bischof und Lehrer handeln aus ihrem Wissen, aus ihrer Überzeugung von der Heiligkeit Gottes. Heilig ist zwar nicht der Sandstein von St. Ludger oder das Lindenholz der Marienstatue, aber die Weihe hat St. Ludger zu einem Ort gemacht, an dem Gott wohnt und wo er sein Hausrecht direkter wahrnimmt als an anderen Orten der Menschenwelt. Deshalb braucht es ja auch ganz besondere Riten, um eine überzählig gewordene katholische Kirche heutzutage zu entweihen, bevor man sie verkaufen kann.
Es gibt Orte, die sind heilig, weil Gott dort eine Adresse hat. Und heilig bedeutet gefährlich, buchstäblich lebensgefährlich. Gott warnt vor sich selber, als er dem Mose aus dem brennenden Dornbusch zuruft, er solle nicht näherkommen und seine Sandalen abstreifen „Der Boden, auf dem du stehst, ist heiliges Land.“ Später sterben zwei Söhne des Priesters Aaron einen schrecklichen Feuertod, weil sie einen kleinen Fehler bei einem Opferritual begehen. Unbegreiflich unbarmherzig, wenn man außer Acht lässt, dass die Begegnungsorte von Gott und Mensch als Hochrisikozone gelten. Die beinahe endlosen Kapitel voller Opfervorschriften in den Mose-Büchern mögen auf uns heutige Bibellesende ermüdend und unverständlich wirken. Ihr Sinn, ihr buchstäblich Leben rettender Sinn wird aber immer und immer wieder erwähnt. Sie sollen die alltägliche Nähe zwischen Gott und seinem immerhin auserwählten Volk überhaupt erst möglich machen. Denn eigentlich passen sie nicht zusammen: der Heilige Israels und die Söhne und Töchter seines Bundes. Der Abstand Gottes zu menschlichem Wesen und menschlichen Leidenschaften ist so ungeheuer, dass das Bilderverbot am Beginn der Zehn Gebote nur logisch ist.
Aber der heilige Gott hat, wenn man überhaupt so menschlich reden darf, zwei Seelen in seiner Brust. Er warnt vor sich selber. Er muss auf größtmöglichem Sicherheitsabstand bestehen. Aber es zieht ihn auch mit aller Macht zu seinen geliebten Menschen. Menschlich gesprochen, sein Herz lässt ihm keine Ruhe. Das ist die Botschaft des grandiosen Bildes vom Gastmahl der 70 Stammesführer Israels im Beisein ihres Gottes, ja mit Gott auf dem heiligen Sinai. Diese Männer überleben, was eigentlich kein Sterblicher überleben kann: sie haben ihren Gott gesehen. Sein Äußeres bleibt unsagbar. Immerhin, seine Aura wird beschrieben. Aber die eigentliche Sensation: „Er reckte seine Hand nicht aus wider die Edlen Israels. Und als sie Gott gesehen hatten, aßen und tranken sie.“ Beiderseitige Rücksichtnahme, von Gott wie von den Menschen, hat eine einmalige und einmalig bleibende Begegnung möglich gemacht. Gott und Menschen an einem Tisch – auch wenn nur die eine Seite auf Nahrung angewiesen ist.
Ganz unvermeidlich lenkt diese große Ausnahmemahlzeit auf dem Sinai unsere Blicke auf die alltäglichen Mahlzeiten Jesu mit seinen Brüdern und Schwestern, mit den Fünftausend am See Genezareth und mit uns Heutigen bei unseren Mahlfeiern. Das wichtigste zuerst: die Ausnahme ist zur Regel geworden. Gott hat sich endgültig entschieden für die alltägliche Nähe zu seinen Menschen. Die Heiligkeit Gottes ist nicht annulliert. Seine Gedanken bleiben höher als unsere Gedanken. Er begegnet uns, ungebunden an die Grenzen, die unser Leben prägen. Aber der Heilige hat sich selbst das Bedrohliche genommen. Er lässt sich anschauen, anfassen, lieben. Das ändert die Zusammensetzung der Tischgemeinschaften. In der alten Geschichte vom Sinai können es eben nur die Stammesführer sein. Frauen stehen viel zu sehr auf der irdischen Seite des Lebens. Ihr Leben in Zyklen wird in männlich geprägten Theologien verschiedener Religionen geradezu als Gegenkraft zur statischen Heiligkeit Gottes empfunden. Und Kinder? Sie sind bis zum Erwachsenwerden und darüber hinaus Besitz des Familienoberhauptes. Welchen Kontrast bildet da die Begleitung Jesu: viele Frauen, deren Namen überliefert sind; Kinder, die er selbst zu Erben des Gottesreiches proklamiert; reihenweise Leute von zweifelhaftem Ruf, mit denen er sich an einen Tisch setzt. Es gibt mehrere Gleichnisse Jesu, die die Proletarisierung eines königlichen Gastmahls beschreiben. Nicht die Würdenträger haben ihren selbstverständlichen Stammplatz am Tisch Gottes, den sie nicht einmal wertschätzen. Diejenigen finden Platz, die sich am meisten danach sehnen.
Die letzte Mahlzeit Jesu mit den Seinen fällt auf den Passah-Abend. Aber sie bleibt dennoch in deutlichem Kontrast zu dem Mahl der Stammesführer in der Gegenwart Gottes. Jesus und die Jünger reden an diesem Abend voller Leidenschaft miteinander. Auch Judas wird nicht des Tisches verwiesen. Die Erde tut sich nicht auf, ihn zu verschlingen. Er wird schrecklich scheitern, aber an sich selbst – und nicht an der Verletzung eines heiligen Tabus. Weil Jesu Tischrunden so offen sind (egal, ob er Gast ist oder Gastgeber), deshalb tun wir gut daran, uns nicht mit den theologischen Fesseln rund um unsere Mahlfeiern abzufinden. Die Einladungen an die Kinder, wie viele Gemeinden sie heute aussprechen, sind ganz gewiss im Sinn Jesu. Aber schmerzender und der ganzen Kirche Christi abträglicher ist natürlich die fehlende Tischgemeinschaft der christlichen Konfessionen untereinander. Dabei haben wir es ja nicht mehr zu tun mit der tödlichen Bedrohung durch einen Gott, dem man schnell zu nahe kommen kann, dessen Nähe also höchste Sicherheitsmaßnahmen erfordert. So finde ich es nicht richtig, dass sog. vernünftige Stimmen jetzt schon wieder feststellen, dass es beim 2. Ökumenischen Kirchentag in München im kommenden Jahr natürlich keine gemeinsamen Mahlfeiern geben dürfe. Seine Kirche richtet hier Grenzen auf, die Jesus nicht wollen kann – nein, ich bin überzeugt, die er nicht will.
Bleibt die Frage, wie es Jesus mit dem Heiligen hält. Eine Antwort ohne allzu viele Worte gibt uns die Geschichte von der Versuchung. Jesus respektiert und will respektiert sehen, dass unserem Gott alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden – die Macht, die das Leben erhält und den irdischen Mächten ihre Grenzen setzt. Nein, Jesus wird nicht zum Kumpel der Leute, denen alles wurscht ist, die aus Überlieferungen und Haltungen dem Heiligen gegenüber einen Gag machen, wenn es nur Quote bringt. Aber er ruft auch nicht nach dem Staatsanwalt wegen Gotteslästerung. Wie will einer Gott lästern, der ihn gar nicht kennt! Aus dem allerheiligsten Sonderfall wird für Jesus und die Seinen der heilige Alltag. Heilig, so wie die neutestamentlichen Texte die Mitglieder der ersten Gemeinden „die Heiligen“ nennen. Wahrhaftig ohne Heiligenschein, aber im Herzen gewiss, dass nichts sie mehr trennen wird von der Liebe Gottes, die sie durch Jesus kennen gelernt haben.