Heiligabend, 24. Dezember 2004
(Textbezug Weihnachtsgeschichte Lukas 2,1-21)
Wie riecht Weihnachten? Nach Tannenduft, Spekulatius und Gänsebraten? Oder nach Schafsmist, ungewaschener Kleidung und Notunterkunft? Sicherlich nach beidem. Und ich stehe nicht hier, um euch die traditionellen Weihnachtsfreuden madig zu machen, die lockenden Gerüche, die schönen Klänge, die vertrauten Sitten, die ganz privaten Traditionen jeder Familie. Auch nicht die Geschenke, so sie denn wirklich Ausdruck menschlicher Zuwendung unter uns sind. Aber um es unter uns Christenmenschen auf den Punkt zu bringen: auf die Gerüche der ersten Art, Tannenduft, Spekulatius und Gänsebraten, könnten wir notfalls verzichten, ohne Weihnachten zu verlieren. Viele Christenmenschen mussten oder müssen heute auf das schöne Weihnachtsbeiwerk verzichten – und tragen doch das Weihnachtsgeschenk Gottes unverlierbar im Herzen. Auf den Gestank und Mief von Schaf, Ziege und ungewaschener Kleidung können wir nicht verzichten. Den haben wir zwar nicht selbst in der Nase. Aber andere waren davon umgeben – alle Tage ihres mühseligen und beladenen Lebens. Und ihrem Zeugnis verdanken wir Anlass und Berechtigung, Weihnachten zu feiern.
Das Leben Jesu, der Entschluss Gottes, das Leben der Menschen zu teilen, beginnt, wo es riecht nach den Mühen und Lasten der kleinen Leute. Gott vertraut seinen Menschensohn kleinen Leuten an, die von den Herren ihrer Zeit herumgeschubst werden, wie kleine Leute zu allen Zeiten. Das Gebärendenschicksal der Maria ist an Banalität kaum zu überbieten. Abermillionen werdenden Müttern unter den Armen und Entwurzelten der Welt geht es so, gewiss auch der einen oder anderen jungen Frau in Magdeburg. Jede und jeder von uns weiß, dass es noch viel schlimmer kommen kann und täglich kommt als im Stall von Bethlehem. Nicht zu vergessen: Maria hat immerhin einen verlässlichen Partner. Wie immer wir uns diesen Platz für eine Geburt vorstellen, kleine Leute sind und bleiben sie. Maria und Josef, kleine Leute, die in der Welt der Macht, des Geldes und auch der Religion keine Rolle spielen. Sie sind so bedeutungslos, wie die meisten Menschen sich fühlen. Kein Hahn kräht nach ihnen. Gott wohl auch nicht. Eine gemischte Schaf- und Ziegenherde, wie im Orient üblich, wird man in der Dunkelheit gewiss eher riechen als sehen. Aber der ehrbare Durchschnittsisraelit ist eh auf Abstand geblieben. Hirten sind undurchsichtiges Gelichter, umgeben von Gerüchten und Geschichten, über die anständige Leute sich erregen können.
Wer unter euch sich vorstellen will, welche Sorte Menschen Augen- und Ohrenzeugen der himmlischen Proklamation in der Heiligen Nacht geworden sind, der sollte in seiner persönlichen Beliebtheitsskala ziemlich weit nach unten gehen. Hirten spielen für uns keine Rolle mehr. Aber wie wäre es z.B. mit Zigeunern, unheimlich wirkenden jungen Ausländern, angeblich Arbeitsscheuen usw. Jeder hat da so seine Werturteile. Menschen, die man sich damals vom Leibe hält, Gott kommt ihnen ganz nahe, beschenkt sie, setzt sie in Bewegung. Solange wir Weihnachten feiern, dürfen wir nicht verschweigen, dürfen wir noch nicht einmal unter allerlei Brauchtum verschleiern, worum es im Kern geht. Gott beginnt seinen Weg zu den Menschen dort, wo es am meisten mangelt an Menschenwürde, an Hoffnung, an Macht, am täglichen Brot. Es bleibt das ewige Handicap derer, die ohne Sorgen sind, das nicht verstehen zu können.
„Friede auf Erden“ für die Menschen, an denen Gott Gefallen findet. Und Gott hat einen ganz eigenen Geschmack. Ihm gefallen die Menschen, die damals wie heute bei keinem Feine-Leute-Empfang zugelassen wären. Gott gefallen Menschen, deren ganze Freude, deren ganzer Schatz er sein kann. „Gottes Ehre“ ist bei den Hirten, ist bei dem bedeutungslosen jungen Elternpaar in besten Händen. Die Gerüche ihres Lebens gehören unbedingt zu Weihnachten. Denn sie erinnern uns an den Alltag unseres eigenen Lebens. Unbedeutend, was den Lauf der großen Welt angeht. Mehr oder weniger mühselig, voller Scheitern, Ängsten und Selbstzweifeln. Hirtinnen und Hirten eben, die sich schlecht und recht durchs Leben schlagen; Menschen wie Maria und Josef, die teilhaben an der Freude des Lebens – aber voller Sorge, was der morgige Tag bringen wird. Uns, Menschen, denen es so geht, ist heute der Heiland geboren. Wir, solche Menschen, bekommen vom Himmel eine Anerkennung zugesprochen, die kein Mensch und kein Gesetz uns wieder aberkennen können. Unser Alltag ist ein für alle Mal verändert, weil Gott durch diesen Jesus jeden unserer Wege mitgeht. Am anderen Fixpunkt seines Lebens steht das Kreuz, wie es die Eine-Welt-Krippe im Vorraum der Kirche so bewegend ausdrückt. Denn auch Gewalt und Tod trennen uns nicht von der Liebe Gottes.
Menschen, die sich ansprechen lassen, wie die Akteurinnen und Akteure der Heiligen Nacht, tragen schließlich und endlich die Kirche Jesu Christi auf Erden. Weil sie nicht zum Schweigen zu bringen sind wie die Hirten. Weil ihr Herz ihnen Antworten gibt wie der Maria. Weil sie sich nicht von ihrer Klugheit, sondern von ihrem Stern führen lassen, wie die Hirten.
Weihnachten darf gern riechen, wie es das in unserer deutschen Weihnachtstradition tut. Aber Gottes Geist mache uns empfänglich für diese anderen Gerüche – weil sie uns versichern, welche Wege Gott auch heute zu den Herzen der Menschen sucht – genauer gesagt, zu deinem Herzen. Darüber nachzusinnen, mit der Seele zu schnuppern, dazu will euch die Eine-Welt-Krippe anleiten, die von jetzt an bis Ende Januar im Vorraum der Kirche steht. Ihr werdet Zeit genug haben, euch einmal allein oder mit anderen davorzusetzen für einen Schnupperkurs der Seele. Nach dem Leben riecht es da. Und nur im ersten Moment nach dem Leben anderer, fremder Leute. Es riecht nach dem wirklichen Leben, nach deinem Leben. Und in das ist Gott eingetreten.