22. Sonntag nach Trinitatis, 27. Oktober 2013
(Fragment ohne Predigttext)
Reden wir über Reformation! Am gesetzlichen Feiertag Reformationsfest werden wir ja nicht zusammenkommen. Wir nicht – und nicht die anderen evangelischen Gemeinden in der Stadt. Stattdessen gibt es den zentralen „Festgottesdienst“, in Wahrheit eine verbrämte Rationalisierungsmaßnahme – und das bei uns, im weltweit gerühmten „Kernland der Reformation.“ Der Zugezogene muss sich immer noch daran gewöhnen. Für gottesdienstliche Vergewisserung unserer besonderen evangelischen Glaubenserfahrung: kein Bedarf. Unseren lieben Mitbürgern, den offiziell Religionslosen, soll´s egal sein. Die würden auch den Hochzeitstag von Kaiser Otto als gesetzlichen Feiertag willkommen heißen, egal welchen. Übrig geblieben scheint wenig mehr als die Benennung von Wittenberg als „Lutherstadt“. Das fördert den Tourismus und verhindert Irrfahrten nach Wittenberge.
Nein, ich stehe nicht über den Dingen, ich weiß es nicht besser. Ich bin nur heftig verwirrt. Meine evangelisch-religiöse Sozialisation vollzog sich so um 1948/50 auch rund um das Reformationsfest. Kein gesetzlicher Feiertag im Umland des Doms zu Münster – Gott bewahre! Das wäre ja auf Kosten von Allerheiligen und Allerseelen gegangen, die bekanntlich unmittelbar folgen. Aber der Pfarrer hat die evangelischen Flüchtlinge nach Sonnenuntergang schon ziemlich geschlossen zum Gottesdienst zusammengetrommelt. Und das Dorf musste „Ein feste Burg“ ertragen, vom noch jungen Posaunenchor rücksichtslos bis zur katholischen Kirche hinüber geschmettert. Unser Pfarrer hatte als Frontoffizier gelernt, zu befehlen und sich durchzusetzen.
Was ist außer dem Spektakel an Inhalten von tieferer Bedeutung bei mir hängen geblieben? Dass unser Gott nicht käuflich ist, nicht bestechlich, sondern gnädig, erfüllt von zuverlässiger Barmherzigkeit allen gegenüber, die sich ihm einfach nur anvertrauen, unabhängig von ihrer Vorgeschichte. Unabhängig von ihren „Vorstrafen“, wenn Ihr mir eine Anleihe bei der Krimi-Sprache erlaubt. „Sola fide“ – allein aus Glauben, diesen lateinischen Brocken hat der Pfarrer uns Dorfkindern eingetrichtert, obwohl so gut wie niemand von uns eine höhere Schule von innen gesehen hat.
Und das Umfeld der katholischen Volksfrömmigkeit bot ja auch deutliche Kontraste. Da tat sich – gefühlt – das Jahr über mehr rund um die Maria als um Jesus. Die Gesangbücher, die in unserer Dorfschule herumlagen, steckten voll von allerlei Heiligenbildchen samt Wundergeschichten, und die in Ave-Marias und Vaterunsern abzählbaren Bußübungen unserer Klassenkameraden nach der Beichte waren uns schon sehr fremd. Mit heutiger Brille hätten Muslime unser Dorf schon als einen Hort der Vielgötterei bezeichnen können. Aber dafür reicht ihnen ja bekanntlich – und aus ihrer Sicht verständlich – schon unser Bekenntnis zum Dreieinigen Gott.
Gott sei Dank, die mitunter erbitterte evangelisch-katholische Bekenntnisfront hat sich längst aufgelöst. Ungezählte treue Katholiken haben in Bruder Martin längst ihren Glaubensbruder und Wegweiser entdeckt. Katholische Heilige wie Hildegard von Bingen oder Elisabeth von Thüringen gelten uns Evangelischen ebenfalls viel. Katholische Gemeinden wiederum führen mit Eifer Bach-Kantaten und Schütz-Motetten auf – undenkbar in meinen jungen Jahren.
Unsere Glaubensgeschwister in den Armuts- und Unrechtsregionen unserer Tage fragen natürlich nicht zuerst nach unserer speziellen christlichen Konfession, sondern nach unserem Mut vor Regierungssitzen und Konzernzentralen und einer Bereitschaft zum Teilen, bei der wir keine roten Ohren kriegen müssen.
Und die Selbstblockaden, die die römische Amtskirche hindern, manche ihrer großen Nöte „radikal“, zu Deutsch von der Wurzel her, anzugehen, sind kein Anlass zur Häme. Sie haben zu tun mit diesem verhängnisvollen Verkleben von Recht und Evangelium, das Jesus sehr fremd war. Und das – gelinde gesagt – Befremden der Weltkinder über die Sicherheits-Vorräte in den Scheunen der Großkirchen Deutschlands trifft uns, systemgebunden, wie wir sind, beide gleichermaßen.
Was ich damals nicht wusste, als das Reformationsfest in meinem Lebenskalender rot angestrichen worden ist? Ich konnte noch nicht verstehen, dass unsere Kirche der Reformation – aus einer vom Heiligen Geist geschenkten Befreiung hervorgegangen – sich in ihrer fast 500jährigen Geschichte in neue Gefangenschaften begeben hat. Papst und Ablass – symbolisch stark verkürzt – wurden eingetauscht gegen Obrigkeiten mit Königs- und Kaiserkronen, bis hin zum Hakenkreuz. So konnten soziale Gefühllosigkeit und Untätigkeit im 19. Jahrhundert, subtiler und offenerer Antisemitismus, Waffensegnungen bis hin zu allen Skandalen der Nazizeit Platz greifen. Wichern und Bodelschwingh, Barmen und Bonhoeffer sind in unserer nachreformatorischen Kirchengeschichte eher die Ausnahme – jedenfalls nicht die Regel. Zu den Waffenträger-Segnern des 1. Weltkrieges gehört – schwarz auf weiß – auch mein dann im Dritten Reich sehr aufrechter Großvater. All das muss gesagt werden, weil es Kirchen der Reformation gibt, die andere Wege gegangen sind. Heute nennen wir sie die Friedenskirchen und berufen uns ständig auf sie. Im meinem Konfirmandenunterricht hießen sie noch Sekten.
Was wäre mein Wunschzettel für dieses Reformationsfest auf Sparflamme, das sich die Magdeburger Gemeinden gerade noch gönnen, oder gar für das große Jubiläum 2017, für das jetzt schon unser bestes Pferd im Stall, die Schwester Margot Käßmann als Sonderbeauftragte ackert? Nachdem niemand mehr das „Allein aus dem Glauben“ gegen fromme Geschäftemacherei verteidigen muss, nachdem wir uns heute gemeinsam unseren Mitmenschen verständlich machen müssen – solange der Missionsauftrag Jesu, seine „mischn“ gilt?
Wonach mein Herz, wonach mein Glaube verlangt, das kann ich ausdrücken mit dem Titel einer der epochalen Streitschriften Martin Luthers: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. In unserer Zeit den Gefangenen sagen, dass sie frei sein sollen, das ist nicht nur etwas für Amnesty International. Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft an uns alle, wenn wir darüber grübeln, wie wir und unsere Kinder dieses gefährlichste Jahrhundert der bisherigen Menschheitsgeschichte bewältigen wollen, wie wir fähig zur Zukunft leben wollen:
(Hier endet das ausformulierte Manuskript. Es folgen Stichworte:)
Mammon und Krieg, Feindbilder und Konsumzwang, Fremdenangst, Geiz ist geil, Herr aller Dinge – Diener aller…