Meine ersten Türken waren die vor Wien, wahlweise die zu Martin Luthers Lebzeiten 1529 oder die von 1683. Das konnte ich seinerzeit unmöglich auseinander halten. Schließlich war ich erst so um die Zehn. Außerdem mischte sich meine Türken-vor-Wien-Saga unentwirrbar mit der heroischen Roland-Saga und allerlei mittelalterlichen Heldentaten, die uns angeblich Dschingis Khan und andere Raufbolde draußen vor der Tür Europas gehalten haben. Warum man mir kein halbes Jahrzehnt nach der Befreiung vom Hitlerstaat solches Zeugs zum Lesen gab, weiß ich nicht. Zur Ehrenrettung meiner Erziehungsberechtigten will ich mal annehmen, dass einfach kein friedfertigeres Lesefutter zur Hand war.
Meine ersten Türken jedenfalls waren zum Fürchten. Die Redensart „Jemanden über Klinge springen lassen“ war eine der ersten, die ich historisch zuzuordnen lernte. Mit diesem gruseligen Bildwort hätten türkische Befehlshaber angeblich Todesurteile verkündet. Ob´s stimmt?
Es muss am Alter liegen, dass die Berichterstattung über die Bergwerkskatastrophe im türkischen Soma solche skurrilen Erinnerungen wach kitzelt. Da wird eine böse Nachricht aus der immer noch ziemlich weit entfernten Türkei im Mai 2014 wie selbstverständlich zu einer innerpolitischen Spitzenmeldung; mit Sondersendungen im Fernsehen und Schwerpunktseiten in meinen Zeitungen.
300 tote Kumpel: erschreckend! Aber vergleichbar Erschreckendes geschieht Woche für Woche weltweit, ohne dass unsere Medienleute reagieren wie in den Stunden und Tagen nach Soma.
Dabei konnten sie gar nicht anders. Denn Millionen von Nachbarinnen und Nachbarn fühlen sich persönlich getroffen, tausende bis in ihren privaten Lebenskreis hinein. Freud, und noch mehr Leid in der türkischen Gesellschaft: innerhalb von zwei Generationen ist das zu etwas gänzlich anderem geworden, als der sprichwörtliche Sack Reis, der im fernen China umfällt, ohne dass sich jemand darum scheren muss. Die Landsleute „mit den türkischen Wurzeln“ haben aus tausend und einem Grund das Recht, dass ihren Fragen und Erschütterungen in unserer Mediengesellschaft genauso Rechnung getragen wird, wie jeder andere Teil unseres Ganzen.
Viele Deutschtürken können ungleich besser als ich beurteilen, was von Gruben wie der in Soma zu halten ist. Denn wir waren Nachbarn in den Jahrzehnten, als der Kohlebergbau im Ruhrgebiet auf sein Ende zusteuerte. Ich erinnere mich an die eine oder andere Gedenkstunde auf den Friedhöfen in der Nachbarschaft der Zechentürme. Fast alle diese Gräberfelder waren schon viele Jahrzehnte alt. Aber die Erinnerung an die Katastrophen unter Tage wurde wach gehalten. Und wir Kirchenleute hatten unseren Beitrag zu leisten. Zum Kreis der teilnehmenden Kumpel gehörten auch die Gesichter einer neuen eingewanderten Generation von türkischen Bergleuten. An den Gebeten von uns Pastoren nahmen sie keinen Anstoß.
Mit der eigenen würdigen Moschee war es damals an Ruhr und Emscher aber noch so eine Sache. An Baugenehmigungen war in 70er/80er Jahren noch kaum zu denken. Aufgegebene Tante Emma-Läden und Lagerschuppen mussten als langjährige Provisorien herhalten.
Was nicht heißen soll, dass uns Jünger Jesu deshalb der Groll der Anhänger des Profeten getroffen hätte – mich jedenfalls nicht, als ich eines schönen Sonntags nach der Kinderkirche noch im Talar hastig ins Auto sprang, weil der Sonntagsbraten lockte. Rumms, hatte ich einer dieser typischen „Türkenschleudern“ für die kinderreiche Familie den Kotflügel zerbeult. Eine Minute später stürzt der Halter aus dem Haus, erblickt den Christen-Mullah im Ornat und wird erkennbar blass.
Selten hatte ich so anstrengende Überzeugungsarbeit zu leisten, wie dieses mal, bis der gute Mann meine Schuldanerkenntnis akzeptierte. Meine Hand zu küssen, daran konnte ich ihn noch hindern.
Zu meinem Kindheitshorror angesichts der Türken vor Wien hat das wirklich nicht gepasst.