Tierfreunde, die Tiere für die besseren Menschen halten, sind mir ein Ärgernis. Außerdem zweifle ich daran, dass solche Menschenverächter im Kampf um das Daseinsrecht der Tiere die Unterstützung finden werden, die sie brauchen. Aber Menschenrechtsaktivisten, die für den Überlebenskampf unserer tierischen Mitgeschöpfe höchstens ein Achselzucken übrig haben, sind mir womöglich noch fremder. Wie um alles in der Welt wollen wir Nahrung und Frieden für sieben Milliarden Menschen möglich machen, wenn wir tatenlos zusehen, wie die Kreisläufe des Lebens in Stücke gehauen werden? Die wechselseitige Ahnungslosigkeit zu vieler strammer Tier- bzw. Menschenschützer ist einer der gefährlichsten Stolpersteine auf dem Weg durch das 21. Jahrhundert.
Wie wir es besser machen können, zeigt eine Eilaktion der Internationalen Menschenrechtsorganisation „FIAN – Für das Recht sich zu ernähren“. 238 nepalesische Waldbauernfamilien aus dem Dorf Balapur bitten um Unterstützung, weil sie nach einer Verfügung von oben künftig den heimatlichen Wald nicht mehr nutzen können. Er wird dem Banke-Tigernationalpark zugeschlagen. Brennholz und Viehfutter werden damit unerreichbar. Eines freilich noch recht fernen Tages könnte es sogar zu gefährlichen Begegnungen kommen, wenn noch ungeborene Königstiger ihre Reviere bis in die Umgebung von Balapur ausdehnen. Die Fischer am Rande der indischen Tiger-Schutzgebiete der Sunderbans im Gangesdelta leben mit dieser Gefahr schon heute.
Das also ist der Interessen-und Rechtskonflikt: hier 238 Familien mit etwa so vielen Seelen, wie auf dem ganzen indischen Subkontinent noch an Tigern leben. Dort einer der letzten Versuche, einer noch überlebensfähigen Population von panthera tigris in der Menschenwelt einen Lebensraum abzuknapsen und zu sichern; wobei sich ein Tiger nun mal nicht auf einem Fußballfeld erhalten lässt, sondern nur in einer Waldregion, in der eine ausreichende Zahl von Beutetieren leben und nachwachsen. Im Klartext heißt das, eine ganze Menge Quadratkilometer für jeden der einzelgängerischen Beutegreifer.
Opfer der „Verhältnisse“ sind sie, wie es scheint, beide. Die Waldbauern erleben, wie einfach über sie verfügt wird. Die Tiger, einstmals die spektakuläre Jagdbeute von Kolonialbeamten und Maharadschas, sterben womöglich den Artentod, zerrieben zwischen dem Landhunger der Menschen und dem irrwitzigen Aberglauben asiatischer Pseudo-Medizin: Tigerpenis, getrocknet und zermahlen, Sie ahnen schon…
So mache ich mich ein wenig unsicher an die Lektüre der FIAN-Eilaktion zur Lage der Waldbauern im Erweiterungsgebiet des Tiger-Nationalparks. Soll ich am Ende von Nepals Regierung verlangen, ihre Pläne zu streichen? Gibt es von Indien über Nepal, Indochina, Sumatra bis in die Sibirische Tigertaiga noch irgend eine Region, wo nicht respektable menschliche Interessen auf dem Spiel stehen, wenn ernsthaft Tiger-Artenschutz auf die Tagesordnung kommt. Hat ein so unmäßig Lebensraum forderndes Raubtier in der problembeladenen Menschenwelt nicht doch sein Lebensrecht verloren?
Wir könnten sein äußeres Erscheinungsbild ja in einigen hundert Zoos über Jahrhunderte erhalten. Die Zucht als solche ist ja kein Problem. Dazu bauen wir eine reiche Cinemathek auf, mit Filmen über die letzten freien Tiger in all ihren ehemaligen Lebensräumen. Schließlich ist die Liste der ausgestorbenen Raubtiere sowieso schon viele Male länger als die der heute lebenden.
Mein Zynismus ist überflüssig. Ich erfahre: als Sprachrohr und Menschenrechtsanwalt der Leute von Balapur verlangt FIAN nicht den Stopp des Tiger-Lebensraum-Projektes. Die Waldbauern sind natürlich nicht begeistert. Aber sie sehen den Sinn des Unternehmens ein. Ein Wald mit Tigern an der Spitze der Nahrungskette ist auf die Dauer ökologisch gesünder, aber auch ökonomisch lohnender.
Die Leute wollen nichts anderes, als was auch wir verlangen würden, wären wir betroffen: Wer in Deutschland unter einem ehemaligen Dorf nach Braunkohle graben will, muss lange vor dem Einsatz seiner Bagger die Menschen angemessen entschädigt haben. Die Missachtung dieser Pflicht ist der Makel ungezählter ökonomischer, aber wie in diesem Fall auch ökologischer Großprojekte in den boomenden Entwicklungsregionen der Erde.
Die Familien von Balapur wollen wissen, wo sie mit ihren Fähigkeiten künftig rechtssicher leben können. Deshalb haben sie auch das Recht, bis dahin an dem festzuhalten, was sie bisher hatten. Solange womöglich Politiker-Sprechblasen gutes Recht ersetzen sollen, muss die Öko-Politshow zur Eröffnung des „größten Lebensraumes für Tiger in Asien“ warten. Denn wer schon entschlossene Menschen für dumm verkaufen will, was hätten Tiger von denen zu erwarten?
Der lebenskluge Interessenausgleich dieser FIAN-Eilaktion stimmt mich hoffnungsvoll. Jetzt muss ich sie nur noch flott unter die Leute bringen.
4.871 Zeichen; 12. März 2012