Ich erinnere mich genau: damals im Herbst 2012 haben nicht wenige evangelische Kirchengemeinden in ihren Gottesdiensten Fürbitte gehalten für die 260 Opfer der Brandkatastrophe in einer Textilfabrik im pakistanischen Karatschi. In den Anregungen, die sie dazu vom Eine Welt-Zentrum in Herne/NRW bekamen, war auch von der Mitverantwortung deutscher Auftraggeber und Verbraucher die Rede. Pakistan, Bangladesh, Mittelamerika sind ja die Nähstuben der Deutschen – die wir uns mit einem weiteren Weltrekord zieren können, nämlich dem der gierigsten Klamottenkäufer weit und breit. Im konkreten Fall der mit unvorstellbarer Fahrlässigkeit herbeigeführten Katastrophe bei Ali Enterprises Karatschi waren die Großaufträge des deutschen Textildiscounters KiK von Anfang an Teil der Berichterstattung und der Diskussion.
Dies irgendwo im Hinterkopf steige ich irgendwann Anfang 2014 in Dortmund aus der Straßenbahn, auf dem Weg vom Bahnhof zu meinem Quartier. Unterwegs hat mich ein rücksichtsloser Regenschauer erwischt. Die Hosenbeine sind klatschnass. Wechselwäsche habe ich auf der kurzen Reise nicht dabei. Der Schnupfen wird zum Damoklesschwert, ärgerlich. Da lenkt ein gnädiger Zufall meinen Blick auf die andere Straßenseite: KiK lese ich über dem Schaufenster. Der Discounter hat hier, wo die Leute mit dem dünneren Portemonnaie leben, eine Filiale. Was folgt, lief rascher ab, als es dauert, es jetzt hinzuschreiben: los rüber, kauf dir die billigste trockene Hose! He spinnst du? Zum Ausbeuter-Discounter? Nee, das geht trotz Schnupfenrisiko nicht. Außerdem, wie soll ich, wieder zu Hause, meiner Frau diesen Panikkauf erklären? So bin ich mit nasser Hose ins Quartier gelaufen und habe die Nähe des Heizkörpers gesucht. Hosen des sportlichen Gastgebers kamen als Leihgabe leider nicht in Frage.
Einige Brandkatastrophen später bin ich froh, dass ich damals nicht auf die andere Straßenseite gegangen bin. Denn so ist meine Zustimmung zu dieser Nachricht im März 2015 ganz und gar unbefangen: ein Überlebender und drei Opfer-Hinterbliebene klagen vor einem Dortmunder Gericht auf Schadenersatz. Denn der deutsche Discounter und sein pakistanischer Auftragnehmer sind geschäftlich so verwoben, dass die linke Hand wissen musste, wie die rechte Hand arbeitete; dass sie mittels vergitterter Fenster und einer einzigen offenen Tür eine Todesfalle konstruiert hatte. Das begründet nach Überzeugung der Klagenden und unterstützender Menschenrechtsorganisationen eine juristisch fassbare Mitschuld und Haftung.
Ich erfahre, dass vier KlägerInnen eine viel größere Opfergemeinschaft vertreten; dass es im Kern um einen wagemutigen Gedanken geht: wir lassen uns nicht mit einem vom Discounter einseitig und ohne Schuldanerkenntnis festgesetzten Geldbetrag abspeisen. Es geht nicht um Mildtätigkeit, von oben nach unten, sondern um Recht. Auch wenn das Jahre dauern kann, auch um das Risiko des Scheiterns. Es geht um ein neues, realistisches Verständnis der Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse auf den globalen Märkten. Es geht um die gerichtliche Würdigung wirtschaftlicher Menschenrechte, die auch in Deutschland Gesetzesrang haben
Und damit geht es nicht allein um einen Discounter namens KiK aus Germany, sondern um eine ganze Heerschar von Seinesgleichen in den Macht- und Kaufkraftzentren unserer Tage.
Und weil das Geschäftsmodell von KiK und Genossen ohne unsereins nicht funktionieren kann, müssten die AnwältInnen der Ali-Enterprise-Opfer eigentlich den deutschen Schnäppchenjäger, wenn nicht auf die Anklagebank, dann mindestens in den Zeugenstand rufen. „Wissen Sie, was Sie da billigend in Kauf nehmen? Wie ist Ihnen dabei? Wären Sie damit einverstanden, wenn die Gesetzgebung von Bundesrepublik bzw. EU den Tausch Schnäppchen gegen Menschenleben so weit wie möglich erschwert?“
KiK ist ein Einzelfall, aus gegebenem schrecklichen Anlass. Prozesse dieser Konstellation werden wir in den kommenden Jahren aber noch viele brauchen.