Ich kann mich nicht präzise erinnern, wer der erste Inder meines Lebens war. War es Mogli aus dem „Dschungelbuch“ oder Mahatma Gandhi? Vermutlich Ersterer, denn in der überaus spärlich ausgestatteten Internats-Bücherei meiner Jungenjahre kam eigentlich jedes Buch früher oder später an die Reihe. Die Schule diente nur bedingt der Horizonterweiterung über die Grenzen von Nachkriegsdeutschland hinaus. In Geschichte hatten wir genug mit Karl dem Großen und mit Friedrich, ebenfalls groß, zu tun. In Erdkunde mag mir der Name des Ganges untergekommen sein, aber kein Mohandas Gandhi, genannt Mahatma. Außerdem will mir scheinen, dass dem indischen Freiheitslehrer damals, wenige Jahre nach seiner Ermordung, auch noch seine weltbekannte Kleidung übel genommen worden ist. Kein Vorbild für die Tanzschul-Jugend der 50er Jahre.
So hat es gedauert, bis ich zu verstehen begann, welch wichtiger Schauplatz für die Freiheits- und Gerechtigkeitsgeschichte des 20. Jahrhunderts Indien gewesen ist. Die 1959 ausgerufene Aktion „Brot für die Welt“ war mit ihren indischen Partnerorganisationen bei dem Bemühen, mich das verstehen zu lassen, deutlich erfolgreicher als Lehrer und sonstige Erziehungsberechtigte. Indien, das war nicht nur der schließlich Seiner Majestät Regierung in London entnervende Unabhängigkeitskampf, – mit jeder Menge geiler action, wie man so was heute nennt; Indien, das war und ist der nicht endende gute Kampf um die Befreiung ungezählter Menschen aus Hunger, Armut und religiös verbrämter Diskriminierung; seit Gandhis Ermordung jetzt schon in der vierten Generation.
Wie viele Namen, wie viele Gesichter und Stimmen, wie viele wagemutige, mitunter tollkühne Ideen und Visionen habe ich über die Jahrzehnte kennengelernt? Meistens aus der Ferne, manchmal aus größerer Nähe. Wie viele Gerechtigkeit und Recht schaffende Programme haben Gestalt und Wirkung gewonnen? Und kein Ende in Sicht, den Menschen Indiens zum Segen.
Freilich, das Indien der Sozialen Bewegungen, der Menschenrechtskampagnen und Frauenproteste hat in meinem Kopf auch Stolperfallen hinterlassen. Was zum Teufel soll eine Nation, deren halbe Bevölkerung von der Hand in den Mund lebt, mit der Atombombe? Die Karikatur aus einer indischen Tageszeitung ist mir unvergesslich: ein magerer Tagelöhner, auf dem Schoss eine leere Schüssel, reißt bei der Nachricht vom erfolgreichen Bombentest jubelnd die Arme hoch. Ironie pur!
Darf man nicht erwarten, dass Indiens Mächtige ihre Prioritäten ein bisschen vernünftiger wählen? Sehen die hohen Herren denn nicht, wie viel internationalen Kredit sie verspielen, Kredit auf den ihre armen Landsleute dringend angewiesen sind? Einfältige Gedanken und Gefühle! Selbstverständlich sind Indiens Minister, Konzernchefs und Generäle aus keinem anderen Holz geschnitzt als Ihresgleichen in aller Herren Länder, allenfalls noch gehärtet durch die schiere Größe der Nation, die sie führen.
Inzwischen ist der Atommachtstatus Indiens Allgemeinwissen. Bollywood-Filmschnulzen haben heute Heimatrecht auf unseren Bildschirmen. Hiesige Großunternehmen haben ihre elektronischen Buchhaltungen längst ins Land Gandhis verlagert. Trotzdem, das alte Bild von Indien als der größten Bühne für das Drama „Kampf um das Menschenrecht auf Nahrung“ sitzt bei mir fest.
Darum bleibe ich beim Waffenexport-Bericht 2011 des sachverständigen SIPRI-Instituts diesmal nicht bei den häßlichen Exportzahlen der deutschen Rüstungsbranche hängen. Im Prinzip ist das nur der gleiche Skandal wie all die Jahre. Aber das hier habe ich noch nicht gehört: satte 10 Prozent aller Rüstungs-Importe weltweit gingen 2011 nach Indien; mehr als doppelt so viele wie ins Riesenreich China – wobei die Chinesen langsam Selbstversorger werden.
Klar, Indiens Politik lebt seit der Unabhängigkeit in einem Stand-by-Kriegszustand mit Pakistan.
Außerdem, wer als einziger mit China in der Liga der Milliardenvölker spielt, wird öfter den speziellen Weltmacht-Juckreiz spüren. Trotzdem, solange ihr ungefähr so viele bitter Arme habt, wie die ganze EU Bürger: muss das sein? Auf die Antwort müssen wir nicht warten. Was bitte, würden wir hören, hat das eine mit dem anderen zu tun? Etwa so viel, wie bei Euch HartzIV-typische Alltagsnöte mit den Rettungsschirmen für die Finanzwirtschaft!
Langsam sollte ich verstanden haben. Was haben die sozialen Kämpfe einer Gesellschaft und die internationale Solidarität, die sie verdienen, zu tun mit der Moralität von Regierungen? Die Nazi-Herrschaft, in die ich hineingeboren worden bin, hätte ja wohl wie keine nach ihr Anlass geben können, den kleinen Leuten internationale Hilfe zu verweigern. Gegen das, was damals auf der Waagschale lag, sind kostspielige Großmachtallüren des modernen Indien ein Klacks. Trotzdem sind meine ersten Schulbücher von ausländischen Spendern finanziert worden; von dem Haferflocken-Kakao-Brei in der großen Pause ganz abgesehen.
Um die Skandale bei der Verwendung und Verteilung des Nationalvermögens kümmert sich in Indien eine mächtige Phalanx erfahrener und mutiger Nichtregierungsorganisationen; unter ihnen nicht wenige , die mit unserer Kirche in Verbindung stehen. Sie erleben Erfolgen und Niederlagen, so wie bei uns.
Uns bleibt das Vorrecht, am Netz all derer mit zu knüpfen, die unverändert darauf vertrauen, dass eine andere Welt möglich ist, hüben und drüben.
5.339 Zeichen; 31.03.2012