Fastenaktion 2013
Außer mir selbst gibt es wohl nur noch einen einzigen Menschen, dem es wichtig ist, dass eine zuckerkranke junge Frau am 20. Februar 1940 in einem Krankenhaus in Breslau ein Baby zur Welt gebracht hat. Dieser Mensch ist meine Frau. Seit Jahr und Tag versucht sie herauszufinden, welche Eigenheiten ihres Lebenspartners mit Erbgut und Wesen dieser Schwiegermutter zu tun haben, die sie nie kennengelernt hat. Meine Mutter gehört zu den Millionen junger Kriegstoter; wegen fehlendem Insulin im Februar 1945 gestorben, wenige Tage vor der Flucht aus Schlesien.
Unsere erwachsenen Kinder sind nicht etwa gefühlsarm. Aber wie sollen sie eine Oma in ihr Bewusstsein aufnehmen, die mehr als zwanzig Jahre vor ihrer Geburt gestorben ist und im übrigen in der Familie ihres wieder verheirateten Mannes nach dem Krieg keinen Platz der Erinnerung hatte?
Schwangerschaft und Geburt sind eines der alltäglichsten und alle menschlichen Zeitalter umfassenden Risiken des Lebens. Für jeden Menschen, dem ich begegne, ist eine Frau einst dieses Risiko eingegangen, vergnügt, selbstsicher, unsicher oder auch mit bitteren Gefühlen. In früheren Generationen, in Armutsregionen und bei ernsten Krankheiten der Schwangeren lagen und liegen die Risiken unübersehbarer auf der Hand als unter dem Schirm moderner high-tech-Geburtshilfe.
Aber gibt es ein schlimmeres Schwangerschafts-Risiko als Krieg und Flucht? Gezeugt haben mich ein Mann und eine Frau, als Hitlers Volksgenossinnen und Volksgenossen mehrheitlich noch fest mit glorreichem Frieden rechneten – da ich keine Frühgeburt war, im Mai 1939. Hoffentlich war Liebe im Spiel.
Aber als Rosemarie dann zu ihrer Risikogeburt ins Krankenhaus musste, konnte ihr Mann sie nicht begleiten. Er war längst einer von Millionen Ehemännern in der Hakenkreuz-Wehrmacht, vermutlich im gerade niedergewalzten Polen.
Dem „Führer“ wird die Einsame ihr Baby weder gewidmet noch anbefohlen haben. Was ich aus glaubhaften Quellen über die Familie weiß, spricht dagegen. Aber vielleicht hatte die Fünfundzwanzigjährige im Februar 1940 noch Illusionen. Der Wehrmachtsbericht im Großdeutschen Rundfunk am 21. Februar 1940, dem ersten Tag ihres Lebens als Mutter, war von vernebelnder Kürze und Banalität: ein bisschen Geplänkel in der Nordsee und in der Luft über dem damals noch neutralen Holland. Dazu ein erfolgreiches U-Boot. Nach Schlesien kam noch auf lange Zeit kein englisches Bombenflugzeug. Hitler und Stalin waren noch Kumpane. Die Zeitungen quollen noch nicht über von den Todesanzeigen umgekommener Soldaten. Ihr Bruder und ihre Schwäger, allesamt Soldaten, lebten noch. Von ihnen würde ihr Mann als einziger den Krieg überleben.
Zwei Jahre später waren zwei der Uniformträger, die auf den schwarz-weiß-Fotos von meiner Taufe zu sehen sind, schon tot. Und sie hat, wie Millionen junge Mütter Tag für Tag den Besuch des örtlichen Parteifunktionärs gefürchtet, der ihr den Tod ihres Mannes mitteilen würde.
Ob die Angst, morgen, in vier Wochen, bei meinem dritten oder vierten Geburtstag Witwe zu sein, ihre Krankheit verschärft hat, wer weiß. Diabetes unterliegt ja auch seelischen Einflüssen.
Meine Großmutter hat sie noch in Hast begraben, wenige Tage nach ihrem Mann. Dann war sie eine von vielen alten Frauen, die alles riskieren mussten, um verschreckte Kleinkinder durch das Chaos von Flucht und Kriegsende zu retten. Diese Alten hatten tausend Gründe, sich zu fragen, warum sie nicht mehr riskiert hatten, um das teuflische Naziregime zu verhindern. Das ist wahr. Aber wir geretteten Kleinen sind gerettet worden, weil sie riskierten, was sie riskieren mussten.
Ich konnte ein volles Leben leben und meinen Großvater, dessen Wohlgefallen mir in früher Kindheit gut getan hat, an Jahren überleben. Die Stimme meiner Mutter ist in mir völlig verklungen. Für einen immerhin Fünfjährigen, der eng an sie gebunden war, ist das eigentlich ungewöhnlich.
Aber diese kranke Frau war eine unermüdliche Vorlese- und Erzähl-Mutter. Die Frauen der Familie bezeugen das. Sie und niemand anderer hat meine Neugier auf die Welt wachgerufen, die Lust, Erlebtes in Worte zu fassen, die Neigung, sich auch mal aus der Deckung hervorzuwagen. Danke!
Wo ich das sage, wird mir klar, dass ich meinen Kindern eine ebensolche Vorlese- und Erzähl-Mutter besorgt habe. Vielleicht gar nicht so erstaunlich!
Schließlich noch ein Wort zu unnötigen Risiken: warum, liebe Oma, musstest du unbedingt dies schwere Fotoalbum in deinen Koffer packen? Ich habe es nachgewogen. 850 Gramm! Da hättest du gut gern einen Pullover und zwei Paar Wollstrümpfe mehr einstecken können, bei der Eiseskälte.
Alle alt gewordenen Flüchtlingskinder, die so ein Album besitzen, kennen die Antwort. Wenn eine Schlepperei der Mühe wert war, dann diese. Die Stimmen sind verstummt. Viele Münder der damals Erwachsenen sind verschlossen geblieben bis zu ihrem Tod. Aber wenigstens die alten Fotos können sprechen, nach und nach deutlicher. Das Risiko beim Packen des Fluchtgepäcks hat sich gelohnt!