Nicht allzu viel aus den Pflichtseminaren meines Theologiestudiums ist in meinem Gedächtnis hängen geblieben. Dieses Detail schon. Wir arbeiteten uns einen Winter lang durch das Matthäus-Evangelium. Und im Kapitel 24, einer Zusammenstellung von Jesusworten über das Ende der Geschichte, ging es um die großen endzeitlichen Katastrophen, von denen dort die Rede ist. Zitat: „Wehe aber den Schwangeren und Stillenden zu jener Zeit. Bittet aber, dass eure Flucht nicht geschehe im Winter oder am Sabbat.“
Damals, als deutsche Nachkriegstouristen noch kaum die Strände von Rimini erreicht hatten, meinte der Herr Professor, uns die Sache mit der Winter-Phobie erklären zu müssen. Schon vor dem Krieg habe er den Orient ausführlich bereist. Dabei habe er am eigenen Leib erfahren, wie bitter kalt es im Winter auf den Hochebenen des Libanon und in der Türkei werden könne: wahrlich kein Land, in dem man getrost Zuflucht suchen könne. Nichts sei es da mit den lauen Lüften der Mittelmeerstrände; eiskalte Winter, besonders bedrohlich für junge Mütter vor und nach der Geburt ihrer Kinder.
Merkwürdig, diese drei, vier temperamentvollen Seminar-Minuten haben ausgereicht, dass ich mich in den folgenden 50 Jahren nie lange bei der Frage aufhalten musste, ob das wohl stimmen kann, diese wiederkehrende Behauptung von bitteren Winterschicksal, das Flüchtlinge in Nahen Osten treffen kann – egal welcher der aufeinander folgenden Kriege sie aus ihrer Heimat vertrieben hat.
„Bittet, dass eure Flucht nicht geschehe im Winter.“ Die Hunderttausende aus Syrien, die heute auf den Äckern libanesischer Bauern in Verschlägen aus Latten und Plastikplanen zittern, sind wahrscheinlich nicht erst im Winter geflüchtet. Aber sie sind in den Winter hineingeraten. Eine humanitäre Katastrophe mit Ansage und hoffnungslos unterfinanzierter Nothilfe. Was tut es zur Sache, dass die Schwangeren und Stillenden im Februar 2015 allermeist Muslimas verschiedener muslimischer Konfessionen sind und keine Jüdinnen bzw. Frauen der entstehenden Jesusgemeinde wie im Matthäus-Evangelium. Ihr Schicksal ist gleichermaßen zum Gotterbarmen!
Auch in den improvisierten Notunterkünften des Libanon erweisen sich die Mütter wieder als das, was sie im Gedächtnis der geschundenen Menschheit seit jeher sind: die Unnachgiebigsten im Kampf um das Überleben ihrer Kinder, ausgestattet mit verzweifelter Zähigkeit. Sie sind und bleiben die Voraussetzung dafür, dass all die Rettungsprogramme von UNO, Hilfswerken und Kirchen überhaupt ein Fundament haben. Und andererseits bleiben sie in entscheidenden Lebenssituationen, in denen sie niemand vertreten kann, auch die besonders Verletzlichen, wie es Helfer-Englisch heißt, die „most vulnerable“. Was kann einer jungen Frau in den Tagen vor der Geburt, bei der Geburt nicht alles zustoßen, wenn die Welt um sie herum aus den Fugen geraten ist? Man denke nur an die lange Liste der Vorkehrungen, die werdende Elternpaare bei uns heute treffen. Und wenn kein Supermarkt mit Babymilch in der Nähe ist, dann kommt alles darauf an, dass eine Mutter so weit bei Kräften bleibt, dass ihr Kind leben kann.
„Bittet darum, dass euch das winterliche Mütterelend erspart bleibt, wenn ihr wirklich einmal fliehen müsst.“ Und, so deute ich den Hinweis auf den Sabbat für unsere Zeit: bittet auch darum, dass euch euer Glaube, die tragende Hoffnung eures Lebens auf der Flucht nicht erfriert und unwiederbringlich zerbricht, so wie Vieles in der Kälte brüchig wird.
Von welchem Glauben ist da in der vielleicht 1.900 Jahre alten Bitte indirekt die Rede ? Synagoge, Jesusgemeinde, noch andere Einflüsse und Erfahrungen? Ich vertraue darauf, dass den um das Leben ihrer Kinder kämpfenden Winterflüchtlingen im Libanon ihre verschiedenen Religionen nicht zur zusätzlichen Bürde werden. In den guten Tagen ihrer uralten Nachbarschaft in den Ländern des Orients haben sie ja alle gelernt, durch verschiedene Fenster in denselben Himmel zu blicken und ihren Kindern den Friedensgruß beizubringen.