Fastenaktion 2013, 28. Februar
Heute also wird Kirchengeschichte handgreiflich. Der erste in der Neuzeit zurückgetretene Papst entschwebt im Hubschrauber nach Castel Gandolfo. Eine mediale und kirchenpsychologische Meisterleistung. Niemand hätte den emeritierten Bischof von Rom des Vatikanstaates verweisen können, wenn er dort einfach eine Tür weiter gezogen wäre. Aber Kardinäle sind auch nur Menschen, Gott-sei-Dank. Das wäre schon ein seltsames feeling, wenn der bei Seite getretene Pontifex in Steinwurfentfernung vom Konklave schliefe, betete und meditierte? Das Konklave zur Papstwahl tagt zwar hinter verschlossener Tür, aber Gefühle lassen sich schlecht aussperren.
Mal angenommen, der erste neuzeitliche Papst-Rücktritt hätte sich 200 Jahre früher, nicht 2013, sondern 1813 zugetragen. Betroffen gewesen wäre dann Pius VII, ein italienischer Graf. Er hätte zum Beispiel aus Protest gegen das Spiel, das Napoleon Bonaparte mit ihm gespielt hat, gehen können. Er starb freilich zehn Jahre später im Amt, wie es bis heute ungeschriebenes Gesetz zu sein schien. Dieser Pius hätte nicht den „Papacopter“ bestiegen, sondern eine Reisekutsche. Wo in seinem Kirchenstaat, der damals noch existierte, er den Ruhesitz genommen hätte? Keine Ahnung! Die Eskorte der Schweizergarde, damals schon eine ehrwürdige Truppe, aber durchaus noch militärisch auf der Höhe der Zeit, hätte ihn vor neugierigen Blicken abgeschirmt. Paparazzi wären aber kaum zu befürchten gewesen. Journalisten-Werkzeug war außerdem nicht die high-tech-Kamera, sondern der Zeichenstift. Aber der elegante Katzensprung im „Papacopter“ ist natürlich „safer“. Er bietet zwar eine kurze Bildsequenz für „urbi et orbi“ und für die Archive. Aber am Landeplatz beginnt die zuverlässige Abgeschiedenheit, die Benedikt XVI nach seinen eigenen Worten sucht. Da erreicht ihn dann sogar der blühendste Blödsinn, den Journalisten in ihre Computer hacken, nicht mehr: „Papst in Castel Gandolfo – allein mit sieben Frauen!“
Der Papst entfliegt der Welt! Bildschirm-Voyeurismus und perfekt organisierte Diskretion in einem! Papst und Vatikan riskieren heute nichts.
Der Mensch Joseph Ratzinger hat vorher viel riskiert. Das begreifen auch die Mitchristinnen und Mitchristen, die ihm gram sind; z. B. dafür, dass er unseren Kirchen die Würde als gleichrangige Glieder der Weltchristenheit abgesprochen hat, weil er überzeugt war, damit seiner Kirche zu dienen.
Aber was er vorher riskiert hat, erinnert den durch und durch evangelisch sozialisierten Christenmenschen doch erstaunlich an den Gewissenstäter Martin Luther. Der fand es ja für die Seele sehr verderblich, seinem Gewissen untreu zu werden, weil geistlich-politische Macht, Tradition und Zweckmäßigkeit das forderten oder nahelegten.
Der alte Ratzinger und der junge Luther geben schon einen kräftigen Kontrast ab. Aber beiden ist offenbar die Gabe Gottes zuteil geworden, zu einer schwer wiegenden Erkenntnis zu stehen, auch wenn sie ein Erdbeben auslösen kann. Wer die Vernunft für eine kostbare Gottesgabe hält, wie Joseph Ratzinger, mag sich vernünftigen Gewissenserkenntnissen nicht entziehen. Ein schmächtiger Mann ohne durchdringende Stimme. Aber dies eine Mal mit überwältigend klarer Ansage.
Und was für Martin Luther die drohende Vogelfreiheit in der Reichsacht, das sind für den zurückgetretenen Papst Benedikt XVI die Bildarchive voller Filme vom öffentlichen Leidens- und Sterbeweg seines unvergesslichen Vorgängers. So macht man das, wenn es sein muss, sagen viele urteilende und fordernde Stimmen. So darf ich das aber nicht machen, sagt offenbar das Gewissen, des unspektakulären Nachfolgers. Und sein Gewissen setzt den Präzedenzfall.
Kein Risiko für Leib und Leben, wie bei dem jungen Mann Luther, aber dieses Risiko muss ein 85jähriges Kind Gottes wohl kaum fürchten. Doch so wahr die Selbstachtung zu den besonderen Gaben Gottes gehört: es wird kaum leicht zu ertragen sein, als Schwächling auf dem Stuhl Petri missverstanden zu werden. Ja, dies Risiko ist hoch! Möge diese Risikobereitschaft sich als Samenkorn des Segens erweisen, für unsere Schwesterkirche und für die Christenheit.
Und Bruder Joseph? Möge er zur rechten Zeit, das Jawort hören, welches seiner Seele gut tut.