Fastenaktion 2013, 19. März
Zunge und Nase sind noch ganz beim Nachtisch. Diese verschiedenen Aromen und Düfte, dazu der kleine Spritzer Rum! Frischer Obstsalat, hausgemacht: Lageräpfel und Walnüsse aus dem Garten, dazu einmal quer durch den Bioladen, Banane, Ananas, Orange, ein paar Kokosflocken und Rosinen. Vegetarische Fastenzeitküche ist mitunter von ganz schön heuchlerischer Delikatesse. Was wir uns da zusammengeschnibbelt haben, lässt jedes gewohnheitsmäßig in die Pfanne gehauene Allerweltsschnitzel alt aussehen.
Gegenüber den Vorfahren, die in den Wochen vor Ostern und Weihnachten mit rigiden Speisegeboten zurecht kommen mussten, erfreuen wir uns freilich einiger Wettbewerbsvorteile. Das bestätigt der Blick in mein Obstsalatschälchen.
Dies blutrote Apfelsinenstückchen zum Beispiel hat in EU-Europa längst den letzten Hauch Exotik eingebüßt. Der umgangssprachliche Name behauptet zwar unverändert, es handele sich um einen Apfel aus China, eine „Apfel–Sine“. Aber wir erwarten sie selbstverständlicher in jedem Angebot als das gute alte deutsche Radieschen. Noch im Jahr Zwei der Bundesrepublik, 1950, war das anders. Der Ziegenpeter hatte mich ziemlich gepackt. Oma wollte mir etwas besonders Gutes tun. Sie beschaffte von irgendwo ein Fläschchen Orangensaft. Den bekam ich teelöffelweise eingetrichtert. Für Oma war der Zusammenhang mit meiner Genesung offensichtlich. So rückte Apfelsinensaft in den Rang des Hausmittels auf. Ich bekam ihn als Jugendlicher sogar per Post, wenn ich im Internat krank wurde.
Allerdings dauerte es noch Jahrzehnte, bis ich verstand, dass sich hinter den Flaschenbatterien in den Supermärkten oft eine üble Verletzung von Kinderrechten verbarg. Noch im letzten Jahrzehnt mussten die Tagelöhner auf vielen Orangenplantagen Brasiliens ihre Kinder mitarbeiten lassen, um ihre Hungerlöhne ein wenig aufzubessern. Orangensaft, nicht nur Bio, sondern vor allem auch Fair, wurde ein Thema kirchlicher Eine-Welt-Arbeit – und ganz praktisch für viele Soft-Drink-Bars in Gemeindehäusern und Schulen. Heute haben wir die Wahl. Wir müssen sie aber auch treffen!
Auch die Bananenscheibchen erinnern mich an Oma Gertrud und ihrer Krankendiät. Ob meine erste vor oder nach der Sache mit dem Orangensaft in meinen Magen gelangte, weiß ich nicht zu sagen. Aber es ist gut möglich, dass Oma für die gelben Früchte viele Kilometer gelaufen ist. Einmal vom Dorf nach Münster und zurück. Der Dorfkrämer hatte so etwas bestimmt nicht im Angebot. Dass Bananen etwas mit Menschenschicksalen und Politik zu tun haben, erfuhr ich aber eindeutig früher als bei den Apfelsinen.
Die Geschichte der Degradierung der kleinen Staaten Mittelamerikas zu den „Bananenrepubliken“ der United Fruit Company, das bittere Leben der Tagelöhner, der Giftnebel über riesigen Monokulturen, das skrupellose Bündnis zwischen einheimischen Eliten und ausländischen Marktbeherrschern – all das war eine der ersten großen Lerngeschichten der aufkommenden Eine-Welt-Bewegung.
Musa paradisiaca, die allgegenwärtige Essbanane, hat immer noch den hässlichen Beigeschmack der Ungerechtigkeit – auch wenn Märkte, Marktmächte und Schauplätze sich verschoben haben. Aber die Alternativen für alle, die das „Aroma der Gerechtigkeit“ mögen, sind inzwischen vielfältig. Mit etwas ehrenamtlichem Engagement vor Ort kann jede Kirchengemeinde sich heute ihre fairen Bananen nach festem Zeittakt ins Haus schicken lassen, z.B. zum Verkauf nach dem Gottesdienst. Die bewährte Fairhandelsorganisation „Banafair“ bürgt dafür. Bio-faire Bananen wachsen zum Beispiel in kleinbäuerlichen, genossenschaftlich organisierten Mischkulturen, gut für den Boden, den Bio-Anbau, die Menschenrechte. Einfache Bio-Bananen, leider ohne „fair“, hat längst ein großer Teil unserer Supermärkte im Sortiment. Am meisten bewegt hat mich bis heute aber der Verkauf von „Friedensbananen“ aus dem Bürgerkriegsland Kolumbien. Mit diesen Erlösen versucht eine bäuerliche Gemeinschaft wirtschaftlich zu überleben, die konsequent allen Kriegsparteien im Land jede direkte oder indirekte Unterstützung verweigert. Ein äußerst wackeliges Wirtschaftsmodell, mutig und jeden Tag in Gefahr. Aber wahrhaft eine Alternative, wenn man bedenkt, wie viel Blut an Bananen klebt.
Ananas im Obstsalat hebe ich mir gern bis zum Schluss auf. In unserer Küche ist die stattliche Frucht nicht alltäglich geworden, wie Apfelsinen und Bananen. Das hängt auch damit zusammen, dass das bio-faire Angebot, ohne das wir es nun mal nicht tun, bei Ananas eher schmal ausfällt. Die Preise zielen auch eher in Richtung Festtagsmenü. Nichts ist es mit „Aktionspreis 99 Cent das Stück“, freiweg von der Giftnebel-Plantage.
Ich hatte meine erste Begegnung mit den leckeren Bromelien vor Jahrzehnten fern ihrer botanischen Heimat im Süden der Philippinen. Aber schon dort und damals waren die Klagen der Plantagenarbeiter dieselben, die sie auch heute noch in Richtung der Ananas-Konsumenten rufen. Heute ist der agro-industrielle Ananasanbau in die Heimat der Ananas zurückgekehrt, nach Mittelamerika. Das kleine Costa Rica mit dem mühsam gepflegten Rechtsstaat- und Öko-Image ist Standort der meisten Plantagen, die unseren Markt beliefern. Am Leben der Arbeitenden und ihrer Angehörigen hängt längst der ganze Rattenschwanz von Agrargift-Krankheiten, bis zu Siechtum und frühem Tod. Das Trinkwasser verdient vielerorts den Namen nicht mehr. Ersatz muss für teures Geld von fern heran gekarrt und eimerweise vom Hungerlohn bezahlt werden.
Auf den Philippinen riefen mir zornige Gewerkschafter den Namen eines deutschen Chemiemultis zu, der die Gifte für ihre Lungen und Lebern lieferte. Ich sollte dringend in Erfahrung bringen, ob und was da heute „Made in Germany“ in Costa Rica unters Volk geblasen wird.
Einmal um die Welt mit einem Obstschälchen. Wer genauer hinschaut, riskiert, dabei eine Menge über Mitverantwortung und Hilfeleistung – unterlassene genauso, wie jederzeit mögliche – zu erfahren.