Orang-Utans brauchen „Habeas Habitat“ statt „Habeas Corpus“

Man kann sich an alles gewöhnen! Genauer gesagt, an zu Vieles! Wer sich z.B., wie ich, auf die mailing-lists einer Handvoll gut informierter Umweltorganisationen gesetzt hat, setzt sich damit zwangsläufig einem Dauerregen schlechter Nachrichten aus. Amazonas, Antarktis, Bienensterben, Wüstenausdehnung, CO2-Statistiken usw. Irgendwann klebt einem diese ellenlange Horror-Stichwortliste im Hirn. Ich weiß, ich bin zum Mitwissen verpflichtet – aber wo sind die Strippen, an denen sich mit Aussicht auf Erfolg ziehen lässt?
Meine latente Hilflosigkeit gilt auch für diese Hiobbotschaften, die seit Jahr und Tag mit entmutigender Regelmäßigkeit eintrudeln: auf den indonesischen Rieseninseln Sumatra und /oder Borneo/Kalimantan ist wieder mal ein Teil der verbliebenen Naturwälder an das globale Palmölbuisiness verscherbelt worden. Unsere genetischen Vettern, die Orang-Utans, indonesisch für „Waldmensch“, verlieren wieder ein Stück ihres Rest-Lebensraumes, unwiederbringlich. Einmal geht der Waldraub ganz offiziell vonstatten, mit Brief und Siegel, dann wieder häppchenweise, illegal, scheißegal, mit Mord und Totschlag als Begleitmusik. Hilflose Orangs, die sich schon mal in die Trostlosigkeit der Plantagen verklettert haben, werden abgeknallt, als wären sie brutale Geiselnehmer, gegen die nur der finale Rettungsschuss hilft. Die Chancen unserer Kumpel von Stamme der Hominiden, das 21. Jahrhundert menschlicher Zählung in Freiheit zu überleben, tendieren gegen Null.
Da soll Hoffnung spenden, was dieser Tage aus Argentinien zu uns drang? Ein hohes Gericht hat dort der Zoo-Orang-Utan-Frau- „Sandra“, Pongo pygmaeus, auf Antrag menschlicher Fürsprecher das Recht auf Entlassung und Auswilderung in ein brasilianisches Waldrefugium zugesprochen. Ein Habeas Corpus-Urteil nennt man das, wie in Freiheitsrechten bewanderte Bürgerinnen wissen. In diesem Fall: willkürliche Haft, die sich nicht auf ein Gerichtsurteil stützen kann, ist verboten. Das gilt für Menschen, Art Homo sapiens, aber – so urteilte man jenseits des Atlantik – behelfsweise auch für sehr menschenähnliche, ihrer selbst bewusste und leidensfähige Geschöpfe wie es Orang-Utans, wissenschaftlich Pongo pygmaeus sind.
Die absehbaren Folgen im Fall Sandra, 20, sind absehbar irrwitzig. Sie wäre der erste Freiland-Orang-Utan der Fauna-Historie Lateinamerikas. Würde sie, eine Zoogeborene aus Rostock, Germany, sich tatsächlich in den Orang-Wäldern Sumatras oder Borneos auskennen, würde sie doch in dem eingezäunten Fleckchen Amazonaswald keinen der Futter-oder Schlafbäume wiederfinden, mit denen sie vertraut ist. Abstrusitäten ohne Ende!
Kann ich skandalöse Haltungen von Menschenaffen in Zoos ausschließen? Natürlich nicht. Tolerierbar ist das nicht. Abhilfe ist aber nur im Rahmen des von Menschen geschaffenen und verantworteten Systems möglich – vom Miserablen zum Best-Möglichen, best-practice auf Denglisch.
Vermutlich kenne ich alle Orang-Utan-Haltungen in den wissenschaftlich geleiteten Zoos in Deutschland. Keine kann auf einen hierher gebeamten Borneo-Naturwald zurückgreifen. Wie auch?
Aber da ist auch keine Haltung, die unsere – genetisch abgezählt- 97-Prozent-Verwandten,, einem anregungslosen dumpfen Alltag überließe; die nicht Verstehen der sozialen, der körperlichen, der räumlichen, ja der kreativen Bedürfnisse der „Waldmenschen“ spiegelte.
Orang-Familien aus Mutter-Kind-Kleingruppen und eher einzelgängerischen Männern in dritter, vierter Zoogeneration erteilen uns einen Unterricht in Schöpfungskunde, auf den ich schlecht verzichten kann.
Die Lebensraumvernichtung auf Druck der Palmölindustrie tobt auf der anderen Seite der Erde, real, aber fern, verdrängbar. Deshalb geht es mir so: in einer best-practice-Zoohaltung einer Orang-Utan-Gruppe einfach nur zusehen dürfen, z.B. ihre absolute Gebundenheit an das Baumleben wieder verinnerlichen, bringt mich wieder auf geraden Kurs, wenn es darum geht, zu dem beinharten Kampf um ihren Lebensraum mein Quäntchen beizutragen.
Aber dann ruht die Hoffnung nicht auf einem vom Menschen abgekupferten „Habeas Corpus“. Dann braucht es etwas, was den Mammon erheblich teurer zu stehen kommt, so etwas wie ein „Habeas Habitat“. Du darfst deinen nächsten evolutionären Verwandten nicht den Lebensraum stehlen, der für sie „alternativlos“ ist, der nebenbei auch noch Lebensraum ist für kleine Naturvölker der Art Homo sapiens, die sich hartnäckig weigern, ihr Bündel zu schnüren.

„Habeas Habitat“ für Orang-Utans hier – eine Million Tonnen Palmöl jährlich für die deutsche Lebensmittelindustrie dort. Das sind Alternativen, bei denen der Spaß aufhört. Wollen wir für ein paar Jahrzehnte die billigsten Nahrungsmittel unserer Wirtschaftsgeschichte – und dann nach uns Sintflut und Wüste?
Deutschlands würdevolle Zoo-Orang-Utans helfen mir da auf die Sprünge.

23.01.15

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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