Satt werden war ein Anfang, immerhin! Erinnerungen eines alten BROT FÜR DIE WELT-Spenders

Für einen neugierigen Menschen ist das Leben immer zu kurz. Andererseits ist es lang genug, dass einstige Prioritätenlisten samt den dazu gehörigen Einstellungen und Fähigkeiten Museumsreife erlangen können. Du kramst in deinem Opa-Archiv nach Lebensregeln, die vor 65 Jahren jedes deutsche Kind eingetrichtert bekam – und erntest bei den Kids von heute im besten Fall unsicheres Staunen, sonst auch schon mal Unangenehmeres.
Wie soll sich der Burger- und Fritten-Generation auch erschließen, was unsere Eltern meinten, als sie uns einbläuten, auf dem Weg zum Bäcker ja auf die unersetzlichen Lebensmittelkarten aufzupassen? Sollen sie uns wirklich glauben, dass für uns die Brotscheiben eine Zeit lang abgezählt waren? Können sie uns abnehmen, dass Feuerholz sammeln oder Pferdemist von der Straße kratzen Teil unserer Pflichten waren, und gar nicht mal die unangenehmsten?

Ein dicker Stapel aufgefundener Briefe meiner Großmutter aus der Zeit ab 1947 leuchtet mir dieses Bühnenbild meiner Nachkriegskindheit jetzt unverhofft ein wenig besser aus.
Vorneweg: als Pfarrersfamilie auf dem Dorf gehörten wir gewiss nicht zu den Ärmsten der Armen. Die evangelischen Flüchtlinge – und wohl auch der eine oder andere unfreiwillig Quartier gebende katholische Bauer – gaben dem durchs Münsterland radelnden Pfarrer die eine oder andere Naturalie mit auf den Heimweg. Ähren lesen und Kartoffeln stoppeln war ohne umständliche Anreise nicht weit von der Haustür entfernt möglich. Der Wald bot Beeren und Bucheckern; und der Schlachter oben im Dorf hin und wieder Schlachtbrühe, die ich in einer verbeulten Kanne abzuholen hatte.
„Urban“ bzw. Village-„Gardening“ auf jedem verfügbaren Quadratmeter war kein Lifestyle-Trip, sondern einfach nur vernünftig. Ich hatte in Erntezeiten mitunter Dienst als lebendige Vogelscheuche und habe für ein Malzbonbon bei zum Trocknen aufgefädelten Tabakblättern Wache geschoben. Da ging es nicht um hungrige Vögel, eher um Raucher mit Entzugserscheinungen.

Oma brachte viele Päckchen auf den Weg. Bis nach der Währungsreform bestand der Inhalt aus Lebensmitteln und anderen Mangelwaren, z.B. Stoffen. Pingelig überprüft sie in ihrer Korrespondenz Laufzeiten und sichere Ankunft der wichtigen aber verderblichen Güter. Beim Lesen entsteht der Eindruck eines informellen Tauschringes. „Danke für den Honig, ich schicke Dir einen Geburtstagskuchen!“ Ganz offensichtlich misst sie die Kaufkraft ihrer Rente über Jahre danach, was sie dafür an Lebensmitteln kaufen kann; nicht danach, was ein Kleid, ein Radio oder gar eine Urlaubsreise kosten. Eine wirklich wichtige Bahnfahrt von Münster nach Bielefeld, ein Katzensprung, muss verschoben werden, weil die Pfennige fehlen.
Geradezu generalstabsmäßig plant Oma die Verteilung der Schätze aus den CARE-Paketen, die ein lange vor dem Krieg nach Indonesien ausgewanderter Bruder aus den USA schickt. Onkel Erich hat es dort wirklich nicht vom Tellerwäscher zum Millionär gebracht. Aber er kratzt die paar Dollar zusammen, die seine Schwester auf die Empfängerliste der wunderbaren Kartons bringen. Und Oma schickt dann weiter; kleinteilig, nach Bedürftigkeit und wohl auch nach Wertschätzung der Verwandtschaft: Kaffee in Miniportionen, Kakao, Zucker, Fette, Dosenfleisch, alles, wonach kleine Leute sich die Finger leckten.
Alles in allem waren das wenige Jahre und, was das Tägliche Brot angeht, für mich keine Leidenszeit, wenn schon, dann eher eine Zeit der gelegentlichen Improvisationen, Brotsuppe, ohne Rosinen wohl gemerkt, Röstbrot, schön warm und knusprig, aber ohne Aufstrich. Meine Frau erinnert sich aus ihren Mädchentagen ohne jegliches Wohlgefühl an „Dürre Zampe“.

Aber die Schulspeisung ist wirklich unvergesslich. Der Geruch des Haferflocken-Kakao-Breis hängt noch in der Nase. Gezahlt haben dafür schwedische Kirchen. Und wer aus meinen Wessi-Jahrgängen herum mosert, ihm hätte auch noch nie jemand was geschenkt, versuche es mal mit ein paar Gedächtnisübungen.
Schlimm war anderes. Auch das hatte mit dem Nazikrieg zu tun. Vor allem damit, dass die Erwachsenen verlernt hatten, Lebensmut, Freundlichkeit und Vertrauen schenkende Erzieherinnen und Erzieher zu sein. Prügelväter, Prügellehrer mussten vermutlich Millionen Kinder von damals später aus ihren Seelen ausweisen.
Dagegen war satt zu werden für uns Nachkriegskinder ein Anfang, immerhin. Auch ernährungsphysiologisch muss diese improvisierte Mischkost nicht durchgehend mangelhaft gewesen sein; wenn ich nur den zwangsläufig aufs vernünftige Maß beschränkten Fleischanteil bedenke.
Darum tue ich mich etwas schwer mit dem Leitwort der neuen Jahresaktion „Brot für die Welt“ „Satt ist nicht genug!“. Einer Menge gleichalteriger Spenderinnen und Spender geht es womöglich ähnlich. Meine entwicklungspolitische Allgemeinbildung reicht aus, um nachzuvollziehen, wie das Werk 2014 zu dieser Aussage kommt, was daran fortschrittlich und zukunftsweisend ist. Ich werde mich gern daran beteiligen, das mit Altersgenossen und Nachgeborenen durch zu buchstabieren.

Aber der Teufel des Missverstehens steckt in diesem Fall mal nicht im Detail, sondern in nachhaltig prägender unterschiedlicher Lebenserfahrung. Satt und satt ist eben nicht dasselbe. Da ist das Bäuerchen des Babies, das die Eltern glücklich macht. Da war das Satt-Kriegen von uns Nachkriegskindern, für das viele Erwachsene körperliche Entbehrungen auf sich genommen haben – mit dem Ergebnis, dass wir mittlerweile die Siebzig Plus erreicht haben. Da ist die modische Schnell-Sättigung bei Mäc´s, in die raffiniert der möglichst schnell wiederkehrende Hunger eingebaut ist. Da ist die gewollte Vernichtung lokaler und regionaler Ernährungskreisläufe, die Abermillionen im Süden zu unfreien weltmarkt-abhängigen Essern macht. Da sind die Notküchen für Kriegs- und Klimaflüchtlinge, die physiologisch satt machen – ohne Hoffnung. Satt und satt ist wirklich nicht dasselbe.
Nein, das neue Leitwort ist leider nicht selbst erklärend, wie es viele gute BROT FÜR DIE WELT-Leitworte waren. Aus jüngerer Vergangenheit erinnere ich mich z.B.an „Niemand isst für sich allein“. „Brot für die Welt“ wird wohl nicht umhin kommen, die Sache mit dem Sattsein gegenüber Kirchenvolk und Bürgerschaft noch klarer zu buchstabieren.

Über Harald Rohr

Ich bin Jahrgang 1940 und lebe als ev. Pfarrer i.R. in Niederndodeleben bei Magdeburg. Mehr über mich
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