Ich drücke den Ausschalter am Fernseher. Wir werden noch eine Menge zu sehen, zu hören und zu lesen bekommen bis zum Frühsommer 2015. 70 Jahre sind seit dem Kriegsende 1945, formal am 8./9. Mai, vergangen. Und Millionen Landsleute können sich noch, von keiner Demenz gehindert, daran erinnern, was damals auf sie einstürmte. Nein, weniger auf sie, als auf die Erwachsenen, an die sie sich klammern mussten: Niederlage, Befreiung, Zukunftsangst, Schuldgefühle, Rechtfertigung, Zynismus. Horrortage als Normalzustand, Überlebenslotterie – den Nachgeborenen praktisch nicht zu vermitteln, wofür die ganz und gar nichts können.
Vieles spricht dafür, dass die persönliche und die öffentliche Erinnerung an den Mai und den anschließenden Sommer 1945 intensiver, genauer, meinungsfreudiger, vielstimmiger ausfallen wird als im Vorjahr die Erinnerung an der 75. Jahrestags des Überfalls auf Polen, mit dem der Krieg begann. Fünf, sechs Jahre mehr an Lebensalter, damals, helfen den alt gewordenen Deutschen gewiss dabei. Ich gehöre zu den Jahrgängen, die überhaupt nur über 1945 etwas sagen weiter erzählen können. Kriegskind eben, und nicht Flakhelfergeneration wie der deutsche Ruhestandspapst in Rom.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen startet in das Erinnerungssemester mit der dramatisierten Geschichte eines Dorfes, das sich plötzlich an der späteren innerdeutschen Grenze wiederfindet. Rund zehn Jahre Zeitgeschichte finden so in mehreren Folgen einen exemplarischen Schauplatz. Aber heute abend ging es um jene Tage und Monate, von denen jetzt so oft die Rede sein wird, in Deutschland, in ganz Europa, Israel, den USA, Kanada – wo eigentlich nicht?
Zum Filmkritiker tauge ich nicht. Ich kann nur aussprechen, was mir die Stimme der Erinnerung, unabhängig vom filmischen Schauplatz, gesagt hat, – obwohl, auch in meiner emotionalen Zufluchtssuche der Nachkriegstage hat, wie im Film, ein Schloss mit Landwirtschaft eine Rolle gespielt – und meine Frau, damals im Kindergartenalter, weiß Ähnliches. Die bäuerlichen Großbetriebe müssen eine Art von Leuchttürmen für die über Land gejagten Flüchtlingskolonnen gewesen sein.
Immer wieder macht mein Erinnerungsvermögen beim Zuschauen einen Haken hinter Vorgänge, Gegebenheiten, Requisiten dieses Doku-Dramas, wie auf einer Checkliste.
Das irre Missverhältnis zwischen denen, die sich in der Not dennoch befreit wussten und den bis über fünf nach Zwölf hinaus an den Hitlerwahn Gefesselten konnte freilich einem Kind 1945 nicht begreiflich sein.
Mein erster biografischer Haken als Zuschauer ist simpel und wichtig zugleich. Ja, wir Kinder waren wirklich dabei. Mitten drin, aber wir waren keine Akteure, keine Hauptpersonen. Kinder waren damals nichts, was man sich leistete, nach reiflicher Überlegung. In den Notquartieren waren wir keine Seltenheit. Aber man muss in diesem Chaos schon nach uns suchen. Auf Dachböden, draussen im Gelände, auch auf Trümmergrundstücken, und dort, wo Soldaten vor Tagen oder Wochen ihr Schießzeug weggeworfen hatten. Die alltäglichen Risiken, denen man uns zwangsläufig überlassen musste, waren horrend, gemessen an heutiger elterlicher Sorge. Aber wenn es dann um Tod und Leben geht, dann ist für viele Erwachsene, nicht nur die eigenen Väter und Mütter, klar, was sie tun müssen. Um so entsetzlicher, dass vor allem manche Väter die Kinder der Feinde noch vor Monaten den Todesmühlen zugeliefert hatten.
Mein Haken steht auch hinter dem großen Nazi-Reinemachen. Die wenigen Führerbilder, die mir in unserem Dorf nach 1945 noch unter die Augen kamen, hatten schon den Reiz des Verbotenen – ein wenig, wie irgendwann die ersten Pin-Up-Fotos, wie sie heute als tägliche Dosis in der Vier-Buchstaben-Zeitung an die Männerwelt verfüttert werden.
Merkwürdig nur – und das ist mir schon wenige Jahre danach aufgefallen, dass die Soldatenbilder in der Familie geschätzt und gehütet waren, als hätten sie mit diesem Hitler gar nichts zu tun. Ganz unten im Wohnzimmerschrank mit den teuren Weingläsern lag auch ein dicker Propagandaschinken im Folioformat aus dem Hause Goebbels: Deutsche Fallschirmjäger erobern Kreta. Und der später bei Monte Cassino gefallene Onkel Heinz war einer von ihnen.
Meine erste Outdoor-Kleidung für das Jungschar-Zeltlager bestand 1947 im Übrigen aus recyceltem HJ-Stoff.
Einen weiterer Haken setze ich hinter Suchen und Finden von Verwandten, hinter die vielen Erwachsenengespräche über ihre Hoffnung auf die Heimkehr von Kriegsgefangenen, das Schicksal der Vermissten. In meiner Familie hatten sich die Überlebenden bald in einer völlig fremden Ecke von Deutschland wieder gefunden. Meine Frau dagegen erlebte mit, dass ihre Mutter den vermissten Vater irgend wann für tot erklären lassen musste. Das Leben musste weiter gehen. Und der „Hör Zu“- Roman „Suchkind 312“ sog dann in der noch fast völlig fernsehlosen Zeit der 50er Jahre Profit aus diesen millionenfachen Familien-Erdbeben.
Ein entschlossener Haken hinter die Umweltbilder aus Pferdefuhrwerken, nicht industrialisierter vielseitiger Landwirtschaft, Maschinen-armer, wenn nicht Maschinen-freier Handarbeit. Ein Haken hinter die selbstverständliche Selbstversorgungs- und Reparatur-Ökonomie, hinter Schwarzmarkt und Hamstern; hinter das Fahrrad als Errungenschaft und vereinzelte Motorrädern als Statussymbol!
Ja, das war alles wirklich so und steckt den Alten in den Knochen und im Lebenskompass. Was nicht heißt, dass die ziemlich alt gewordenen Kinder vom Frühjahr 1945 nicht längst folgsame, linientreue Mitglieder unserer Konsumgesellschaft geworden wären; kritischen Fragen nach der Zukunftsfähigkeit unserer Lebensart eher abgeneigt als viele Jüngere.
Dabei wissen sehr viele von uns aus eigener Erfahrung, wie selber spielen geht, wie entdecken, wie wagen; was geduldige Vorfreude ist, was ein geheimer Ort am Waldrand, was eine selbst geschnitzte Flöte.
So vieles von dem, was wirklich so war, wäre wert, heute im Ratschlag der Generationen auf den Tisch gelegt zu werden. Wäre da nicht auch das andere, dem die damals Erwachsenen zusammen mit uns Kindern so schnell wie nur möglich entkommen wollten. Eine Dosis tödliches Gift macht eben jedes Gericht ungenießbar.